Schweiz:Ein besonderer Todesfall

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Selbstbestimmt in den Tod: Etwa 80 Prozent der Schweizer sind für organisierte Sterbehilfe. (Foto: Oliver Berg/dpa)

In der Eidgenossenschaft ist organisierte Sterbehilfe seit Jahrzehnten akzeptiert, der Rückhalt in der Bevölkerung ist groß. Doch der Suizid einer 75-jährigen Britin heizt die Diskussion jetzt wieder an.

Von Charlotte Theile, Zürich

Ende Juli starb eine 75-jährige Britin, Gill Pharaoh. Zuvor hatte die Altenpflegerin aus London im Internet ihre Gründe dargelegt: Sie habe einen Tinnitus, Rückenschmerzen, sei schnell erschöpft. Gartenarbeit und größere Dinnerpartys strengten sie zunehmend an, nicht selten liege sie tagsüber einfach auf dem Sofa und schlafe. Depressiv sei sie jedoch nicht. Dennoch: In diese Richtung müsse es nicht weitergehen, fand Pharaoh. Gemeinsam mit ihrem Lebenspartner John Southall aß sie ein letztes Mal Fisch, trank ein holländisches Bier und ließ sich dann für einige Tausend Franken in Basel aus dem Leben befördern. John Southall erklärte später der britischen Daily Mail, Gill habe schon immer den Wunsch gehabt, früh zu sterben. "In ihren Dreißigern sagte sie, fünfzig wäre genug. Später wurde sechzig daraus, dann siebzig. Als sie dann siebzig war, begann sie, diese Idee ernsthaft zu verfolgen."

In der Schweiz, wo man sich vor Jahrzehnten an die organisierte "Selbstbestimmung am Lebensende" gewöhnt hat, braucht es Ereignisse wie dieses, damit das Thema diskutiert wird. Allerdings war man sich auch bei Gill Pharaoh, die mit der Organisation Lifecircle aus dem Leben geschieden ist, schnell einig: Alles sei mit rechten Dingen zugegangen. Jeder Freitod muss als "außergewöhnlicher Todesfall" gemeldet werden, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Wurde das Medikament selbst eingenommen? Gibt es Hinweis auf "selbstsüchtige Motive" der Sterbehelfer? Bei Pharaoh habe man keine Hinweise finden können, dass etwas nicht stimmt, erklärten die Ermittler.

10 000 Franken soll die Britin bezahlt haben, Bestattungskosten inklusive

Und Erika Preisig, eine frühere Mitarbeiterin der Sterbehilfe-Organisation Dignitas, die 2011 den Verein Lifecircle gegründet hat, sagt, Pharaoh sei sehr viel kränker gewesen, als sie selbst behauptet. "Sonst hätte ich sie doch nicht begleitet." Details wolle sie mit Hinweis auf die Persönlichkeitsrechte nicht preisgeben.

Bernhard Sutter ist Geschäftsführer von Exit, der größten Freitod-Vereinigung der Schweiz. Obgleich Exit ausschließlich Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz in den Tod begleitet, wehrt sich Sutter auch gegen die Kritik, die jetzt an Organisationen, die Ausländer begleiten - etwa Dignitas und Lifecircle -, aufgekommen ist. Dass Exit es anders handhabe, sei kein Werturteil, sondern eine praktische Entscheidung: "Es ist für uns schlicht zu aufwendig, jemand aus Griechenland, bei dem wir die Krankengeschichte nicht sofort verstehen und mehrmals nach Athen fliegen müssen, um mit ihm, den Angehörigen und Ärzten zu sprechen, zu begleiten." Das würde die Möglichkeiten des "Non-Profit-Vereins" bei Weitem übersteigen. Auch die Preise der anderen Organisationen - Gill Pharaoh etwa soll 10 000 Franken gezahlt haben - sind für Sutter kein Anlass zur Kritik. So teuer sei es in der Schweiz eben, Ärztegutachten einzuholen, Natrium-Pentobarbital zu besorgen, die letzten Stunden mit einem sterbewilligen Patienten zu verbringen und die Bestattungskosten zu begleichen. Bei allen Organisationen ist es Voraussetzung, dass sich die Patienten selbstbestimmt entscheiden und ein schweres Leiden mit hoffnungsloser Prognose haben. Auch psychische Krankheiten können in seltenen Fällen dazu zählen, eine einfache Depression, wie man sie vielleicht bei Gill Pharaoh vermuten könne, reicht allerdings nicht aus. "Bei der Diagnose Depression ist die Urteilsfähigkeit beeinträchtigt", sagt Sutter. Und wer nicht urteilen könne, dürfe nicht begleitet werden.

2014 begleitete Exit 583 Menschen in den Tod, bei Dignitas waren es 204

Eine der häufigsten Kritikpunkte an den Sterbehelfern sind ihre Honorare. Mit 90 000 zahlenden Mitgliedern kann es sich nur Exit leisten, kostenlos (bei langjährigen Mitgliedern) oder für relativ günstige 900 bis 3500 Franken zu begleiten. Auf der Homepage von Exit heißt es: "Aufgrund der hohen Anmeldezahlen kann die Wartezeit zwischen Anmeldung und Erhalt der Patientenverfügung mehrere Wochen dauern." 583 Menschen begleitete die Organisation 2014 in den Tod, im Jahr zuvor waren es noch 459. Auch Dignitas, die vor allem für Ausländer attraktiv ist, verzeichnet steigende Zahlen: von 97 Freitodbegleitungen im Jahr 2010 auf 204 im Jahr 2014. Die meisten Patienten kamen aus Deutschland und Großbritannien.

Der Rückhalt, den die Sterbehilfe-Organisationen in der Bevölkerung genießen, liegt bei etwa 80 Prozent. Politische Vorstöße, die das liberale Gesetz einschränken wollten, hatten in dem direkt-demokratischen Land bislang keinen Erfolg. Auch der Begleitung von gesunden, aber "lebenssatten" Senioren stehen nach einer Umfrage von 2014 zwei Drittel der Schweizer positiv gegenüber. Organisationen wie Exit erklären das auch durch die traditionell starke Selbstbestimmung der Schweizer: Wer ein Leben lang an der Urne und bei allen anderen Fragen des Lebens selbst entschieden habe, sei wohl besonders ungern bereit, die Entscheidungsgewalt am Schluss abzugeben.

Es gibt jedoch auch andere Stimmen: Je mehr sich die Gesellschaft an Exit & Co. gewöhne, desto mehr werde es zur Regel, mit dem Giftbecher aus dem Leben zu scheiden. In der Neuen Zürcher Zeitung etwa hieß es: "Auch in der Frage, wie es sich zu sterben gehört, folgen wir - mehr oder weniger - sozialen Normen." Es werde so sehr zur Norm, seinen Liebsten nicht zu sehr zur Last zu fallen, dass das Blatt klarstellen wollte: "Der Wert eines Menschenlebens bemisst sich nicht daran, ob jemand sich selbst den Hintern abputzen kann." Schon jetzt leiden etwa 20 Prozent der Menschen, die Exit in den Tod begleitet, nicht an tödlichen Krankheiten. Für die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) ist das ein Problem. Sie sehen den Gewissensentscheid der Ärzte, einem Patienten Natrium-Pentobarbital zu verschreiben, an verschiedene Kriterien geknüpft. Gleich das erste Kriterium stößt bei Exit-Geschäftsführer Bernhard Sutter auf Widerstand: "Die Annahme, dass das Lebensende nah ist? Das heißt also, einem Langzeitleidenden wird das Selbstbestimmungsrecht genommen und es dürfen nur Patienten ihr Leiden abkürzen, wenn sie ohnehin innert Tagen tot sind?" Sutter ist überzeugt: Damit würde man nur neue Graubereiche schaffen, die Definition, wie nah ein Lebensende sei, sei auch für Mediziner oft kaum zu bestimmen. Auch SAMW ist hier gespalten - man werde in den nächsten Jahren gemeinsam mit Ärzten, Theologen und Ethikern überlegen, wie wichtig dieses Kriterium sei.

Dass Gill Pharaoh, die als Altenpflegerin wohl Zugang zu entsprechenden Medikamenten gehabt haben dürfte, in die Schweiz fuhr, kann man als Statement verstehen: Der Sterbe-Tourismus aus Deutschland, Großbritannien und anderen europäischen Ländern boomt - und zeigt, dass es Handlungsbedarf gibt. Langfristig müsse jedes Land einen eigenen Umgang mit seinen sterbewilligen Patienten finden, heißt es etwa von Exit.

© SZ vom 03.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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