Schweiz:Beschränkung light

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Die Zuwanderungsinitiative sollte Europäern den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren. Geblieben ist wenig.

Von Charlotte Theile, Zürich

Das Thema des Wahlkampfs waren die Deutschen: Gut ausgebildete Arbeitskräfte, immer ein bisschen zu laut und zu selbstbewusst, die den Schweizern mit ihren Dumpinglöhnen die Arbeitsplätze wegnehmen. Mit diesem Schreckgespenst gelang es der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) vor fast drei Jahren, eine Abstimmung zu gewinnen, die forderte, Zuwanderung, auch aus den Nachbarländern, wieder selbst zu steuern. Ein Angriff auf eine europäische Kernidee. 50,3 Prozent der Schweizer stimmten 2014 dafür. Seither gilt "der 9. Februar" in der Schweiz als Code für einen Schock, der vieles vorweg genommen hat, was die europäischen Länder in den vergangenen Jahren beschäftigt hat. Grenzenlos reisen, grenzenlos arbeiten - wer sich mit dieser Vision anlegt, stellt Europa infrage. Doch spätestens seit dem Brexit ist klar: Viele Länder in Europa zweifeln an der Personenfreizügigkeit. Und die Schweiz? Musste eine Volksabstimmung umsetzen, die sie zum Exempel werden ließ. Sollte es dem Land, das bekannt ist für seine stille und geschickte Diplomatie, wieder gelingen, Sonderregeln auszuhandeln? Könnten diese Regeln für Großbritannien und andere Kritiker der uneingeschränkten Personenfreizügigkeit zum Vorbild werden?

Brüssel zeigte sich zu keinerlei Zugeständnissen bereit - ein Vorgeschmack auf den Brexit?

Die EU war angesichts dieser Präzedenz zu keinerlei Zugeständnissen bereit - und strafte die Schweiz in einem Bereich ab, wo es wehtut: in der Wissenschaft. Die Schweiz ist seit der Abstimmung nur noch Drittland im Studenten-Austausch Erasmus, auch die Teilnahme am akademischen Förderprogramm Horizon 2020 wurde infrage gestellt. Zudem machte die EU klar: Ohne die Personenfreizügigkeit wären auch andere Verträge mit der Schweiz hinfällig, was unüberschaubare wirtschaftliche Folgen für das exportorientierte Land in der Mitte Europas hätte.

In Deutschland hat die Schweiz derzeit ein paar Anhänger weniger - die Bundesregierung verlangt vom Nachbarn umfassende Aufklärung. (Foto: Alessandro Bianchi/Reuters)

Statt wie früher ohne viel Aufsehen verhandeln zu können, schaute ganz Europa hin, wie die Schweiz zunehmend verzweifelt Chefunterhändler nach Brüssel entsandte - und schließlich im Sommer 2016 resigniert begann, eine Lösung zu entwerfen, die vor allem eine Vorgabe erfüllen musste: "EU-kompatibel" zu sein. Dazu kam Zeitdruck. Drei Jahre haben Parlament und Regierung Zeit, um eine Initiative umzusetzen, der Stichtag für die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative ist folglich der 9. Februar 2017. Die Schweizer mussten sich beeilen.

Das Ergebnis? Ist ironischerweise ziemlich sozialdemokratisch: Liegt die Arbeitslosigkeit in einer Branche oder einer Region deutlich über dem Durchschnitt, werden die Unternehmen verpflichtet, offene Stellen dem Arbeitsamt zu melden. Die Ämter stellen den Firmen Unterlagen von geeigneten inländischen Kandidaten zu, diese müssen zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden. Für die Schweizer Arbeitsämter, die sich bisher darauf konzentrierten, Arbeitslose zu informieren und fit zu machen für die eigenständige Bewerbung ist diese aktive Stellenvermittlung eine Umstellung.

SZ-Grafik; Quelle: Schweizer Bundesamt für Statistik (Foto: SZ-Grafik)

Für die rechtspopulistische SVP ist der sogenannte Inländervorrang light eine Niederlage. Zum einen wird ihre Initiative, die eine aktive "Steuerung der Zuwanderung" durch die Schweiz forderte, mit dieser Verordnung nicht umgesetzt - gleichzeitig ist es für die Rechtspopulisten schwierig, gegen einen Inländervorrang Stimmung zu machen. Und: Genau die Personen, die von der Regelung profitieren könnten, waren es wohl, die 2014 die Abstimmung entschieden: Ältere Arbeitnehmer, Arbeitslose, Geringqualifizierte. Die SVP hat bislang kein Referendum gegen den Inländervorrang vorgeschlagen - sondern sich darauf verlegt, den Untergang der direkten Demokratie auszurufen. Nachdem sich das Parlament Mitte Dezember nach langen Beratungen auf den Inländervorrang geeinigt hatte, sprachen SVP-Politiker sogar von "Landesverrat".

Auch ohne strenge Gesetze wollen jedes Jahr weniger Deutsche ins Land

Tatsächlich hat sich das Thema EU-Zuwanderung, mit dem die SVP 2014 die Abstimmung gewann, zuletzt merklich entspannt - auch ohne steuernde Kontingente. Wuchs die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz im Jahr 2013 noch um 87 000 Personen, waren es 2015 nur mehr 72 000 Personen mehr. Für 2016 dürften die Werte noch geringer sein. Besonders deutlich ist die Entwicklung bei den Deutschen. Ende Dezember 2008 lebten mehr als 34 000 Deutsche mehr in der Schweiz als noch am Anfang des Jahres, 2015 dagegen wanderten nur noch 6700 Deutsche netto in die Schweiz ein. Woran das liegt? Neben der verbesserten wirtschaftlichen Lage in Deutschland führen viele auch die Masseneinwanderungsinitiative an: Nicht wenige Deutsche fühlten sich von dem Ergebnis persönlich getroffen, hatten die Debatten um "zu viele Deutsche in der Schweiz" satt. Zudem wirkte sich die Initiative auch auf die Einstellungspolitik der Schweizer Unternehmen aus - unsicher, welche Regelungen künftig gelten würden, entschieden sich die Firmen im Bewerbungsprozess lieber gleich für einen Inländer.

Knapp drei Jahre nach der Annahme der Initiative hat die Schweiz auf den ersten Blick alles erreicht: Eine EU-kompatible Reaktion auf die Abstimmung, deutlich weniger Zuwanderer - und eine Arbeitsmarktmaßnahme, die gut klingt, die Gewerkschaften freut, und den Arbeitgebern kaum etwas abverlangt. Die Stimmung im Land ist allerdings eine andere: Das Verhältnis zu Europa und zu den offenen Grenzen beschäftigt die Schweiz nach wie vor. Mehrere Initiativen und Kampagnen wollen Grundsatzentscheidungen herbeiführen: zur Personenfreizügigkeit, zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, zu wirtschaftlichen Abkommen mit der EU. Über einige dieser Initiativen wird in den kommenden Monaten abgestimmt. Gut möglich also, dass die Schweiz bald wieder zum Präzedenzfall für die EU wird.

© SZ vom 11.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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