Schottland:Ober sticht Unter

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Die europafreundlichen Schotten wollen sich nicht widerspruchslos von London aus der EU herausholen lassen. Das schottische Parlament kann sich zwar gegen den Brexit sträuben - verhindern kann es ihn ziemlich sicher nicht.

Von Alexander Menden, London

Nicola Sturgeon, Schottlands Erste Ministerin, gab sich kämpferisch. Als in einem BBC-Interview die Frage aufkam, wie Schottland sich gegen einen - vom Großteil der schottischen Bevölkerung nicht gewünschten - EU-Austritt stemmen könnte, sagte sie, "natürlich" werde sie das schottische Parlament bitten, die Zustimmung zu jeder legislativen Entscheidung zu verweigern, die zu einer Umsetzung der Brexit-Entscheidung notwendig wäre. "Wir werden nicht für etwas stimmen, was nicht im Interesse Schottlands ist", so Sturgeon. Auf die Frage, ob sie sich vorstellen könne, wie wütend die Engländer, die für einen EU-Austritt gestimmt hätten, sein würden, wenn Schottland diesen verhinderte, antwortete sie: "Das kann ich schon, diese Wut würde jener ähneln, die viele Menschen in Schottland bei der Aussicht empfinden, gegen ihren Willen aus der EU herausgeholt zu werden."

Dass die Brexit-Entscheidung sehr wahrscheinlich zu einer zweiten Volksabstimmung über die schottische Unabhängigkeit führen würde, das hatte Sturgeon schon am Tag nach dem EU-Referendum gesagt. Immerhin stimmten 62 Prozent der schottischen Wähler dafür, in der EU zu bleiben. Ein Ergebnis, in dem sich eine unüberbrückbare Differenz zum südlichen Nachbarn manifestiert. Dass die Erste Ministerin nun auch noch drohte, den Brexit selbst zu vereiteln, eröffnete eine weitere Front.

Wie weit reichen aber überhaupt die Befugnisse des schottischen Parlaments in Holyrood? Könnte es tatsächlich einen in Westminster gefassten Beschluss blockieren, die EU zu verlassen? In letzter Konsequenz lautet die Antwort: Nein. Die Regelungen der sogenannten devolution, also der Umverteilung von Macht aus London nach Edinburgh, erlaubt es den Schotten, ihre eigenen Gesetze zu verabschieden. Artikel 28 des Scotland Act, der diese legislative Dezentralisierung regelt, besagt aber auch eindeutig, dadurch sei nicht "das Recht des Parlaments des Vereinigten Königreiches" beeinträchtigt, "Gesetze für Schottland zu beschließen". Schottland könnte seine Zustimmung verweigern, aber theoretisch hätte das Londoner Parlament das Recht, ohne diese Zustimmung für das ganze Land eine Entscheidung zu fällen. Das würde Holyrood und Westminster auf einen nie da gewesenen Konfrontationskurs bringen.

Nicola Sturgeon könnte sich allerdings auch auf einen Passus im Scotland Act berufen, der besagt, in Holyrood beschlossene Gesetze, die nicht mit der EU-Gesetzgebung kompatibel sind, hätten "keine Gesetzeskraft". Schottland müsste also Teil der EU sein, damit der Scotland Act greift. Man kann das so interpretieren, dass ein EU-Austritt die Grundlage schottischer Gesetzgebung in ihrer jetzigen Form außer Kraft setzen würde. Tatsächlich handelt es sich bei Sturgeons Säbelrasseln vermutlich nur um einen Teil jenes Geplänkels, das die britische Politik in den kommenden Monaten bestimmen wird. Die Erste Ministerin und ihre Scottish National Party haben gegenwärtig wenig Lust auf ein direktes Kräftemessen mit Westminster. Auch ein schnelles zweites Unabhängigkeitsreferendum würde nicht zu ihrer langfristigen Planung passen. Diese sieht vor, die mögliche Abspaltung anzugehen, wenn die Umfragen eine sechzigprozentige Mehrheit für die schottische Eigenständigkeit ausweisen. Doch nach dem EU-Referendum musste die SNP Stärke erstmal zeigen, zumal EU-Freundlichkeit Teil ihres Programms ist.

Auch für eine Abstimmung über eine irische Wiedervereinigung stehen die Chancen schlecht

Ganz ähnlich, nämlich vor allem als Signal an die eigenen Wähler, darf man wohl den Vorstoß des stellvertretenden Ersten Ministers von Nordirland, Martin McGuinness, einordnen. Der Sinn-Féin-Politiker fordert nach der Brexit-Entscheidung eine eigene Volksabstimmung über die Wiedervereinigung der sechs nordirischen Grafschaften mit der Republik Irland. Die nordirischen Katholiken waren mehrheitlich für den Verbleib in der EU. Nur die London-treuen, protestantischen Loyalisten stimmten für "Leave". Und das, obwohl Nordirland vom Handel mit Europa und von EU-Subventionen so abhängig ist wie keine andere Region im Vereinigten Königreich. Das Karfreitagsabkommen über den nordirischen Friedensprozess sieht vor, die Nordiren über eine Wiedervereinigung abstimmen zu lassen, wenn sich "eine Mehrheit dafür entscheidet, nicht mehr Teil des Vereinigten Königreiches zu sein".

Die Nordirland-Ministerin Theresa Villiers hat einem solchen nordirischen Referendum bereits eine Absage erteilt: Momentan sind laut Umfragen nur 44 Prozent der Nordiren für eine Wiedervereinigung mit der Republik. Selbst wenn Westminster grünes Licht für einen sogenannten "Border Poll" gäbe, müsste das nordirische Regionalparlament in Stormont ebenfalls seine Zustimmung erteilen. Das ist aber sehr unwahrscheinlich, da dort die loyalistische Democratic Unionist Party die stärkste Fraktion stellt.

Die Regierung der Republik Irland hat ohnehin bereits signalisiert, dass sie an einem "Border Poll" keinerlei Interesse hat. Der irische Außenminister Charlie Flanagan glaubt, "jedes weitere Referendum zum Status von Nordirland wäre unter den gegebenen Umständen überhaupt nicht hilfreich".

© SZ vom 28.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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