Russland:Lange Spur nach Grosny

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Trauer in Moskau: Wenige Tage nach dem Mord an Boris Nemzow vor einem Jahr marschierten diese Demonstranten in Gedenken an den liberalen Oppositionsführer. (Foto: Alexander Utkin/AFP)

Vor einem Jahr wurde der Oppositionsführer Boris Nemzow ermordet. Ein Fall mit bekannten Details - und unbekannten Hintermännern.

Von Julian Hans, Moskau

Ein Jahr nach dem Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow nur dreihundert Schritte vom Kreml entfernt, ist die Tat bis ins Detail rekonstruiert, doch die Motive bleiben diffus und die Hintermänner im Dunkeln. Über Wochen hätten sie den Politiker beschattet, erklärten die Täter bei ihren Vernehmungen, doch der habe ein "chaotisches" Leben geführt - mal blieb er tagelang in seiner Wohnung, mal war er im Ausland, mal unterwegs im Gebiet Jaroslawl, um sein Mandat als Abgeordneter des Regionalparlaments wahrzunehmen. Nemzow fuhr gern mit der Metro und wenn er zu Fuß unterwegs war, begleitete ihn meistens eine Menschentraube.

Am 27. Februar sahen die Mörder ihren Moment gekommen: "Der Ort und die Tageszeit waren ideal für den Mord", sagte Ansor Gubaschew den Ermittlern laut dem Vernehmungsprotokoll vom 30. März 2015, das die Zeitschrift New Times in dieser Woche veröffentlichte: "Unbeteiligte waren nicht in der Nähe, sogar die Verkehrspolizisten, die ihr Auto in der Nähe abgestellt hatten, fuhren unverhofft weg. Augenblicklich holte Saur Dadajew die Pistole mit dem Schalldämpfer unter dem Sitz hervor und steckte sie in seine Hose".

Gubaschew folgte in einigem Abstand mit dem Fluchtwagen, während Dadajew dem Politiker auf die Große Moskwa-Brücke nachlief. Was dann geschah, liest sich in Dadajews Aussagen so: "Ich sagte nichts, kein Wort, nicht 'dreh dich um' oder 'das ist für dies oder jenen'. Ich habe nicht angegeben, weder vor ihm, noch vor sonst wem. Der Allmächtige weiß schon, warum, für wen und wie ich es getan habe. Deshalb gab ich sofort drei Schüsse ab". Fünf Meter sei er da von seinem Opfer entfernt gewesen. Als Nemzow zu Boden ging, drückte er noch zwei Mal ab und sprang dann in den Fluchtwagen. Nemzow war sofort tot.

Anfangs kamen die Ermittlungen schnell voran, denn der Mord geschah am bestbewachten Ort

Anfangs kamen die Ermittlungen schnell voran. Der Mord war am bestbewachten Ort des Landes unter den Objektiven zahlreicher Überwachungskameras geschehen. Wenn es stimmt, was die regierungskritische Nowaja Gaseta aus Sicherheitskreisen erfuhr, dann unterrichtete der Chef des Geheimdienstes FSB, Alexander Bortnikow, Präsident Wladimir Putin schon am 2. März über die Ergebnisse - also am dritten Tag nach der Tat.

Demnach hatte eine Gruppe Tschetschenen den 55-Jährigen getötet, von denen zwei dem Bataillon "Sewer" angehören. In der Einheit wurden nach dem Ende des zweiten Tschetschenienkrieges die Kämpfer von Achmat Kadyrow organisiert, des Vaters des heutigen Republikchefs Ramsan Kadyrow. Die etwa 600 Mann sind als Teil der 46. Brigade des Innenministeriums in Grosny stationiert. Organisiert habe die Tat mutmaßlich der stellvertretende Kommandeur des Sewer-Bataillons, Ruslan Geremejew. Dessen Vetter Adam Delimchanow sitzt als Abgeordneter der Kreml-Partei Einiges Russland in der Staatsduma. Kadyrow nennt ihn seinen möglichen Nachfolger.

Fünf Verdächtige wurden am 5. März 2015 verhaftet, darunter der mutmaßliche Schütze Dadajew, der Fahrer des Fluchtwagens, Gubaschew, und dessen Bruder. Ebenfalls unter den Festgenommenen: Tamerlan Eskerchanow, ehemals Angehöriger einer Einheit des tschetschenischen Innenministeriums, die ihrerseits vom Abgeordneten und Kadyrow-Vertrauten Delimchanow geführt wird. Beslan Schawanow, ein weiterer Angehöriger des Sewer-Bataillons, soll bei seiner Festnahme in Grosny von einer Granate getötet worden sein.

In gewundenen Erklärungen verurteilte Kadyrow die Tat alsbald, lobte im nächsten Atemzug die Verdächtigen jedoch gleich als "echte Patrioten" und äußerte Verständnis, da Nemzow nach dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris Mohammed-Karikaturen verteidigt habe. Am 9. März gab der Kreml bekannt, Präsident Putin habe Kadyrow mit einem Verdienstorden ausgezeichnet: "Für Erfolge im Dienst, gesellschaftliches Engagement und jahrelange gewissenhafte Arbeit".

Über ihre Motive hatten die mutmaßlichen Täter zunächst andere Angaben gemacht. Bei seiner Vernehmung am 18. März sagte Gubaschew, Nemzow sei "schon lange gegen unseren Staat aufgetreten, er hat das Volk mit seinen Auftritten provoziert. Er hat die Ehre unseres Staates und unseres Regenten verletzt". 15 Millionen Rubel seien für die Tat versprochen gewesen - zum damaligen Kurs etwa 312 000 Euro.

Ein Jahr später hat die Justiz die tschetschenische Führung aus dem Visier genommen. Eine Anklage gegen Ruslan Geremejew, den Vetter des Abgeordneten und Kadyrow-Vertrauten, lehnte der Chef des Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin wegen mangelnden Tatverdachts ab. Stattdessen wurde im Dezember gegen dessen Fahrer, Ruslan Muduchinow, als mutmaßlichen Organisator Anklage erhoben. Muduchinow hat sich indes in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt.

Haupttäter soll nach der jüngsten Version nun Beslan Schawanow gewesen sein - der beim Festnahmeversuch getötete Sewer-Offizier. Dadajew zog seine Aussagen mit der Begründung zurück, sie seien unter Folter entstanden. Nemzows Tochter Schanna und Vertreter der Opposition werfen den Behörden vor, mit dieser Version von den eigentlichen Auftraggebern abzulenken - allen voran Ramsan Kadyrow.

Unterdessen vergeht kein Tag, ohne dass Moskauer frische Blumen an den Tatort bringen. Am Sonntag wollen die Botschafter aller 28 EU-Staaten gemeinsam Blumen auf der Großen Moskwa-Brücke niederlegen. 300 Schritte vom Kreml.

© SZ vom 26.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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