Russland:Knochenjob

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Der Patriarch der orthodoxen Kirche lässt Gebeine der letzten Zaren-Familie exhumieren, um die Identität erneut zu klären. Es geht dabei um nicht weniger als die Einheit der Kirche.

Von Julian Hans

In Fragen von Glaube und Zweifel sind die Rollen eigentlich klar verteilt: Der Glaube ist Sache der Kirche, der Zweifel treibt die weltliche Wissenschaft an. In einem Fall, der die russische Öffentlichkeit bewegt, verhält es sich gerade umgekehrt: Während Kriminalisten, Genetik-Experten und Historiker sich einig sind, dass es sich bei den 1991 und 2007 in der Nähe von Jekaterinburg gefundenen Gebeinen um die Überreste der Zaren-Familie handelt, hat die orthodoxe Kirche nun neue Ermittlungen erwirkt.

Das russische Ermittlungskomitee, das den Fall 2011 als gelöst zu den Akten gelegt hatte, muss ihn nun auf Druck höherer Mächte neu aufrollen. "Auf Initiative des Heiligen Patriarchen" sei die Entscheidung getroffen worden, das Grab von Alexander III. zu öffnen, sagte ein Sprecher des Komitees Anfang der Woche in Moskau. Ende November soll es so weit sein. Bereits im September wurden die Gebeine von Nikolai II. und seiner Frau Alexandra Fjodorowna aus ihrer Gruft in der Peter-und-Paul-Festung in Sankt Petersburg geholt, um Proben aus den Schädelknochen zu entnehmen.

Ein Exekutionskommando der Kommunisten hatte Nikolai, den letzten Zaren, seine Frau, ihre fünf Kinder sowie vier ihrer Diener in der Nacht auf den 17. Juli 1918 in einem Keller in Jekaterinburg erschossen. Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft wurden die Überreste der Eltern und der drei jüngsten Töchter in einem nahen Wald geborgen. Die Echtheit dieses Fundes ist nicht umstritten. Ein neuer Vergleich mit der DNA der Eltern und des Großvaters Alexander III. soll nun bestätigen, dass auch die Gebeine, die dem Thronfolger Alexej und seiner älteren Schwester Maria zugerechnet werden, echt sind. Sie wurden 2007 an anderer Stelle gefunden und lagern derzeit im Staatsarchiv in Moskau. Eigentlich sollten sie Mitte Oktober ebenfalls in Petersburg beigesetzt werden, doch der Zweifel des Patriarchen kam dem zuvor. Eine Kommission aus Geistlichen soll nun die neue Untersuchung überwachen.

In der Tat geht es in dieser Frage um nicht weniger als die Einheit der Kirche. Und um die Staatsräson, denn neben der sowjetischen Vergangenheit bedient sich Putins Russland zunehmend aus der Tradition des zaristischen Imperiums. Im Jahr 2000 hatte die Kirche die ermordete Zarenfamilie als Märtyrer heiliggesprochen. Doch bevor ihre Gebeine als Reliquien verehrt würden, müssten auch die leisesten Zweifel ausgeräumt werden, ließ der Patriarch mitteilen. Andernfalls könnten sie "zu einer Spaltung in der Gesellschaft und in der Kirche führen". Tatsächlich hat sich die russisch-orthodoxe Kirche in ihrer Geschichte mehr als einmal an formalen Fragen entzweit. Berühmt ist der Streit darüber, ob man sich korrekt mit der ganzen Hand oder nur mit zwei Fingern zu bekreuzigen habe.

Die Bereitschaft, an Verschwörungen zu glauben, ist sowohl in kirchlichen als auch in national-konservativen Kreisen Russlands traditionell hoch. Allerdings birgt jeder weitere Versuch, Gewissheit zu schaffen, auch Gefahren. Denn Exhumierungen liefern Verschwörungstheoretikern einen neuen Anlass zu glauben, die Reliquien könnten gestohlen oder vertauscht worden sein.

© SZ vom 29.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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