Die Botschaft ist unmissverständlich: Das Fadenkreuz eines Scharfschützengewehrs verfolgt Michail Kassjanow bei einem Besuch in Straßburg. Der Oppositionelle hole sich dort Geld, schrieb der Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow unter das kurze Video, das er auf Instagram veröffentlicht. Dazu in großen Lettern: "Wer es noch nicht kapiert hat, kapiert es jetzt!"
Das Video ist der neueste Höhepunkt einer Drohkampagne, mit der das Oberhaupt der russischen Republik Tschetschenien seit zwei Wochen versucht, Kritiker einzuschüchtern. Sie begann mit einem Aufruf, Oppositionelle als "Volksfeinde" und "Verräter" zu behandeln. Es folgten Bilder mit zähnefletschenden Kampfhunden und der Anspielung, diese seien jederzeit bereit, liberale Pinscher zu zerreißen. Vor einer Woche ließ die tschetschenische Führung in Grosny mehrere Hunderttausend Menschen zu einer Kundgebung unter dem Motto "Kadyrow - Stolz Russlands" aufmarschieren.
Kassjanow, der Mann im Fadenkreuz, war 2000 bis 2004 russischer Premier während der ersten Amtszeit von Wladimir Putin als Präsident. Im Dezember wählte ihn die liberale Partei der Volksfreiheit (Parnas) zum Spitzenkandidaten für die Parlamentswahl im September. Umfragen sagen ihr ein Prozent der Stimmen voraus.
Die Drohung dürfte deshalb einen anderen Hintergrund haben: Bei seinem Besuch in Straßburg war Kassjanow für eine internationale Untersuchung des Mordes an Boris Nemzow. Dieser war Ko-Vorsitzender von Parnas. Am 27. Februar vorigen Jahres wurde er unweit des Kremls erschossen. Alle Spuren führen die Ermittler nach Tschetschenien. Bei der Suche nach den Motiven und den Auftraggebern haben die Ermittlungen aber vor Kadyrow Halt gemacht. Ein Vertrauter Kadyrows warnte, dessen Gegner sollten sich auch im Ausland nicht sicher fühlen. Kreml-kritische Russen in Deutschland berichteten zuletzt von Einschüchterungsversuchen. Am Sonntag demonstrierten Kadyrow-Leute auf dem Rathausmarkt in Hamburg.
Die heimlich in Straßburg gefilmte Szene hatte zuvor bereits der Sender Lifenews ausgestrahlt, dem enge Verbindungen zum Geheimdienst nachgesagt werden. Dass in Kadyrows Version zusätzlich ein Fadenkreuz über die Bilder gelegt wurde, wertete die Vorsitzende der Moskauer Helsinki-Gruppe, Ljudmila Alexejewa, als "direkte Drohung": Kadyrow erlaube sich solche Exzesse, weil er sich "absolut unantastbar" fühle. Ein Kreml-Sprecher erklärte, ihm sei der Fall nicht bekannt.
Menschenrechtsgruppen warnen derweil vor einer "Tschetschenisierung Russlands": Wenn in Krisenzeiten die Unterstützung bröckelt, könnte der Kreml nach Kadyrow-Manier vermehrt mit Willkür und Gewalt herrschen.