Regierungsbildung:Auf Einladung der Queen

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Theresa May hat den Regierungsauftrag erhalten. Nun muss sie zeigen, dass ihre Mehrheit steht. Aus eigener Kraft schaffen das die Konservativen nicht.

Von Alexander Menden

Die Konservativen haben überraschend ihre absolute Mehrheit im britischen House of Commons eingebüßt. Nun gibt es ein sogenanntes Hung Parliament . Was heißt das? Könnte die Queen im Zweifel entscheiden, wer als nächster Premierminister in Downing Street einzieht? Und was bedeutet das Ergebnis für die Brexit-Verhandlungen? Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Unterhauswahl.

Was genau ist ein " Hung Parliament"?

In Großbritannien gilt das Mehrheitswahlrecht. Das heißt, dass sich die Parlamentssitze nicht proportional zum jeweiligen Stimmenanteil der Parteien verteilen. Gewählt ist vielmehr der Kandidat, der in einem Wahlkreis die einfache Stimmenmehrheit erhält. Alle anderen Stimmen verfallen. Verfechter des Mehrheitswahlrechts betonen, dass dadurch in der Regel eine Partei die absolute Mehrheit auf sich vereint. Dies soll verhindern, dass Koalitionen geschlossen werden müssen. Bei einem Hung Parliament tritt, wie bei dieser Wahl, der ungewöhnliche Fall ein, dass keine Partei eine Regierungsmehrheit erhält. Zuletzt gab es 1974 und 2010 ein Hung Parliament. 1974 wurden daraufhin Neuwahlen angesetzt, 2010 gingen die Konservativen eine Koalition mit den Liberaldemokraten ein, die fünf Jahre hielt.

Könnte sich die Queen bei einem "Hung Parliament" aussuchen, wen sie mit der Regierungsbildung beauftragt?

Nur die Königin kann im britischen Wahlsystem die, wie es genannt wird, Einladung aussprechen, in ihrem Namen eine Regierung zu bilden. Theoretisch könnte sie nach eigenem Gutdünken einen Politiker mit der Regierungsbildung beauftragen. Da dies aber unweigerlich eine Verfassungskrise nach sich ziehen würde, folgt sie stets der Konvention, jene Person als Premierminister zu berufen, der es mit der größten Wahrscheinlichkeit gelingen wird, eine funktionierende Regierung zu bilden. Im Falle eines Hung Parliament ist es zunächst den Parteien selbst überlassen, sich darauf zu einigen, wer die Queen zu diesem Zweck im Buckingham-Palast besuchen darf.

Stellt also die Partei mit den meisten Abgeordneten im Unterhaus automatisch den Premier?

Nein. Wenn es, wie jetzt, keine absolute Regierungsmehrheit gibt, können alle Parteien versuchen, eine tragfähige Regierung zu bilden. Die Konservativen werden dies mit Duldung der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) oder in einer Koalition mit deren zehn Abgeordneten versuchen. Labour bräuchte die Unterstützung aller Parteien mit Ausnahme der Tories, um eine Minderheitsregierung zusammenzustellen, ganz gleich, ob dies eine formelle Koalition oder eine geduldete Regierung wäre.

SZ-Grafik; Quelle: Electoral Commission (Foto: N/A)

Hat Labour-Chef Jeremy Corbyn also eine Chance, Premier zu werden, sollte Mays Regierung mit der DUP nicht funktionieren?

Theoretisch ja. Praktisch ist dies aber so gut wie ausgeschlossen, da die Protestantenpartei DUP mit Jeremy Corbyn, den sie als Freund der IRA betrachtet, nicht zusammenarbeiten wird. Jon Trickett, ein Corbyn-Vertrauter, sagte am Morgen nach der Wahl, sollte sich Theresa Mays neue Regierung als instabil erweisen, sei er zuversichtlich, "eine Regierungserklärung formulieren zu können, die breite Unterstützung im Parlament hat". Formelle Koalitionen wären von Seiten Labours ohnehin nicht vorgesehen.

Welche Forderungen wird die DUP als Gegenleistung für ihre Unterstützung Mays stellen?

Die DUP wird versuchen, Theresa May zu verbindlichen Zusagen für bedeutende Investitionen in die nordirische Infrastruktur zu bewegen. Die einst vom radikalen Protestantenführer Ian Paisley gegründete, eher konservative Partei hat stets den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU befürwortet. In dieser Hinsicht gibt es also eine prinzipielle Übereinstimmung mit May. Allerdings wird die Frage sehr weit oben auf der Agenda stehen, wie denn die Grenze zwischen Nordirland und der irischen Republik künftig aussehen soll: Die Loyalisten wollen die durchlässige Wirtschaftszone zwischen beiden Staaten erhalten, die seit dem gleichzeitigen EU-Beitritt Großbritanniens und Irlands nach und nach aufgebaut wurde. Das könnte zum Konflikt mit May führen, sollte sie tatsächlich Anstalten machen, die Brexit-Verhandlungen ganz ohne Abkommen platzen zu lassen.

Die Wahlbeteiligung junger Leute ist überraschend deutlich gestiegen. Wem kam das zugute?

Von diesem Zuwachs hat eindeutig Labour am meisten profitiert. Die Wahlkreise mit dem höchsten Anteil an Wählern im Alter von 18 bis 24 Jahren, wie Bristol West, Cardiff Central, Newcastle East und Liverpool Riverside, sorgten auch für den größten Anstieg an Labour-Stimmen. Für die Konservativen war der Verlust des Wahlkreises Canterbury, den sie ohne Unterbrechung seit dem Zweiten Weltkrieg hielten, besonders schmerzhaft. Labour-Kandidatin Rosie Duffield gewann mit lediglich 187 Stimmen Vorsprung. Diesen Sieg verdankt sie vor allem den Studenten der University of Kent, die sich an ihrem Studienort zur Wahl meldeten.

Welche Folgen dürfte das Wahlergebnis für die politische Ausrichtung innerhalb der Labour Party haben?

Zu Beginn des Wahlkampfs war Jeremy Corbyn eine vernichtende Niederlage vorhergesagt worden. Nach einem Zugewinn von 30 Parlamentssitzen geht er nun gestärkt aus den Wahlen hervor. Die schärfsten innerparteilichen Kritiker werden zumindest vorerst verstummen, der linke Flügel der Partei, gestützt von den Gewerkschaften, wird auf absehbare Zeit wohl die politische Marschrichtung Labours bestimmen. Die von Tony Blair vor 20 Jahren ausgerufene Ära von "New Labour" ist damit endgültig Geschichte. Peter Mandelson, einer der Architekten von New Labour, gab jedoch zu bedenken, dass mit dem derzeitigen Programm der Rückverstaatlichung von Dienstleistungen wie Bahn, Post und Energieversorgung eine regierungsfähige Mehrheit letztlich nicht zu erreichen sei.

Was bedeutet der massive Stimmenverlust der EU-feindlichen United Kingdom Independence Party?

Ukip sei "ein Opfer des eigenen Erfolgs" geworden, sagte der Parteivorsitzende Paul Nuttall am Morgen nach der Wahl - und kündigte seinen Rücktritt an. Tatsächlich wurde das Hauptziel der Rechtspopulisten, die EU zu verlassen, beim Referendum vor einem Jahr erreicht. Seitdem haben sowohl die Tories als auch Labour sich zur Umsetzung dieses Votums bekannt. Beide Parteien profitierten von Wählern, die sich aber nun von Ukip abwandten. Der Absturz von 12,6 auf 1,8 Prozent deutet darauf hin, dass die Zeit Ukips vorbei ist. Ihr ehemaliger Vorsitzender Nigel Farage wird sich aber zweifellos weiter im Gespräch halten.

Wann tritt das neugewählte Parlament zusammen?

Die erste Sitzung des neu konstituierten Parlaments wird am kommenden Dienstag stattfinden, sollte Theresa May ihr neues Kabinett bis dahin berufen haben. Die Queen's Speech, die offizielle Regierungserklärung, wird dann am 19. Juni folgen - demselben Tag, an dem die Brexit-Verhandlungen starten sollen.

Was bedeutet das Wahlergebnis für die Brexit- Verhandlungen?

Premierministerin Theresa May hatte die vorgezogenen Wahlen damit begründet, sie wolle so ein möglichst großes Mandat für ihre Version eines "harten Brexit" sichern. Dieses Mandat hat ihr der Wähler nun vorenthalten. Obwohl sie nach ihrer Rückkehr aus dem Buckingham-Palast ankündigte, sie werde "das Land durch die wichtigen Brexit-Verhandlungen" führen, muss sie diese Gespräche jetzt aus einer eindeutig geschwächten Position heraus führen.

© SZ vom 10.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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