Reform zum 1. Januar:Kinder haften für ihre Eltern

Lesezeit: 4 min

Zuwendung hilft: In fast zwei Drittel aller Städte und Landkreise können sich Senioren professionelle Pflege nicht ohne Weiteres leisten. (Foto: U. Grabowsky/photothek)

Die Neuordnung der Pflegeversicherung durch Minister Gröhe geht nicht nur Ältere an, denn oft greifen Behörden auf das Vermögen der Angehörigen zurück, wenn die Hilfe vom Staat nicht ausreicht.

Von Kim Björn Becker

Die Landkreise Borken und Merzig-Wadern liegen vier Autostunden voneinander entfernt, doch wenn es um die Pflege der Ältesten geht, dann sind sich die Gebiete im Westmünsterland und im Saarland ganz nahe - denn in beiden gilt: Für die Mehrheit der dort lebenden Senioren ist eine professionelle Pflege unerschwinglich. Zu oft führen Alter und Krankheit dazu, dass Menschen, die lang und hart gearbeitet haben, mit einem Mal vor dem Nichts stehen. Aus Pflegefällen werden nicht selten Sozialfälle.

Dieses Problem gibt es in ganz Deutschland, doch in Borken und Merzig-Wadern zeigt es sich besonders deutlich. In fast zwei Drittel aller Städte und Landkreise bundesweit können sich Senioren professionelle Pflege nicht ohne Weiteres leisten - dort sind die im Durchschnitt erforderlichen privaten Zuzahlungen für die Betreuung nämlich höher als das durchschnittliche Monatseinkommen der über 80-Jährigen. Das hat die Bertelsmann-Stiftung unlängst ausrechnen lassen. Und mit der Rente allein kommen Pflegebedürftige vor allem im Süden und im Westen der Republik nicht weit. Im Kreis Borken reicht ihr Geld rechnerisch für 246 Tage Pflege im Jahr, in Merzig-Wadern nur für 228 Tage.

Um die verbliebenen Kosten aufzubringen, müssen Betroffene zum Beispiel an ihr Vermögen und können gezwungen sein, ihr Haus zu verkaufen. Oder es werden die Kinder in die Pflicht genommen, das sieht das Gesetz so vor - selbst wenn ihr Gehalt nicht ausreicht, um die Pflegekosten nur eines Elternteils zu decken, kann das Sozialamt auf das Vermögen zurückgreifen. Und wenn auch bei den Angehörigen nichts zu holen ist, wird der Pflegebedürftige zum Sozialfall, die Solidargemeinschaft kommt für die Versorgung auf.

Das Problem ist nicht neu, doch mit der zunehmenden Alterung der Gesellschaft wird es jedes Jahr etwas größer. Schon als die gesetzliche Pflegeversicherung in den Neunzigerjahren eingeführt wurde, war sie als eine Art Teilkasko gedacht: Die Sozialversicherung übernimmt die meisten Kosten, einen Teil trägt der Betroffene. Doch die Zuzahlungen werden für viele zum Problem. Wie der jüngste Pflegebericht der Barmer ergeben hat, erhält jeder dritte Bewohner eines deutschen Pflegeheims finanzielle Unterstützung vom Sozialamt. Dieser Anteil ist in den vergangenen zehn Jahren gleich geblieben, doch eine gute Nachricht ist das keineswegs - denn die Zahl derer, die im Heim betreut werden, ist im selben Zeitraum von 560 000 auf 680 000 Personen gestiegen. Und sie wird noch weiter steigen: Derzeit sind 2,8 Millionen Menschen pflegebedürftig, 2030 könnten es 3,5 Millionen sein.

Schafft die Neuregelung mehr Gewinner als Verlierer?

Um zu verhindern, dass immer mehr Betroffene in die Armut abrutschen, hat der frühere FDP-Gesundheitsminister Daniel Bahr auf staatlich geförderte Zusatzversicherungen gesetzt. Sie sollen die Kosten der Eigenanteile auffangen, doch das Vorhaben gilt als wenig erfolgreich. Bahrs Nachfolger Hermann Gröhe (CDU) hat einen anderen Weg eingeschlagen: Zum 1. Januar tritt die umfassendste Reform der gesetzlichen Pflegeversicherung in Kraft, die es bislang gegeben hat. Dabei werden die bisherigen drei Pflegestufen abgeschafft und durch fünf sogenannte Pflegegrade ersetzt; das soll eine bessere Einordnung der Patienten erlauben. Darüber hinaus will Gröhe eine Eigenheit des Pflegesystems beseitigen, die lange als Missstand gerügt wurde: Die durchschnittlichen privaten Zuzahlungen sollen nämlich nicht mehr steigen, wenn der Betroffene mehr Hilfe braucht, so jedenfalls das Ziel. Derzeit klettern die durchschnittlichen Eigenanteile parallel zur festgestellten Beeinträchtigung von etwa 460 auf 900 Euro pro Monat; im neuen Jahr sollen sie für alle bei etwa 580 Euro liegen. Senioren mit weniger Einschränkungen zahlen demnach mehr als heute, Betroffene mit starken Gebrechen dafür weniger. Allerdings soll niemand, der bereits heute Leistungen aus der Pflegeversicherung bekommt, im neuen Jahr schlechter dastehen - die Regierung hat den Bürgern einen Bestandsschutz versprochen.

Wo die Pfleger schlechter bezahlt werden, ist die Betreuung meist billiger

Ob die Neuregelung der Eigenanteile tatsächlich mehr Gewinner als Verlierer erzeugt, ist selbst unter Fachleuten strittig. Am Freitag erst warnte der Bundesrat davor, dass der Großumbau die Sozialämter der Kommunen noch stärker belasten könnte. Als sehr wahrscheinlich gilt jedenfalls, dass viele Hochbetagte auch mit den zukünftigen Zuzahlungsbeträgen überfordert sein werden - vor allem zukünftige Pflegebedürftige mit einem niedrigen Pflegegrad. Bei ihnen könnte die Reform Anreize setzen, sich häufiger zu Hause betreuen zu lassen. Das würde umgekehrt bedeuten, "dass Menschen, die trotz geringerem Pflegebedarf gerne ins Pflegeheim möchten, das wegen Geldmangels nicht können", sagt Stefan Etgeton, Gesundheitsexperte der Bertelsmann-Stiftung.

Ob die Rente in Zukunft für eine professionelle Pflege ausreicht oder nicht, wird aber auch weiterhin vor allem eine Frage des Wohnorts bleiben. Denn in ihrer Studie führte die Bertelsmann-Stiftung die Unterschiede für das Gefälle zwischen den Einnahmen der Senioren und den Kosten für die Pflege vor allem auf die Bezahlung der Altenpfleger zurück - und die ist regional stark unterschiedlich. "Wo die Pfleger schlechter bezahlt werden, ist die Betreuung meist billiger und für die Senioren eher zu finanzieren", sagt Etgeton. Ein ausgebildeter Altenpfleger verdient zwischen 1900 Euro und 2600 Euro brutto im Monat, je nachdem wo er arbeitet. "Im Süden und im Westen der Republik sind viele Einrichtungen zum Beispiel an kirchliche Tarife gebunden, dort werden die Pfleger besser bezahlt", sagt Etgeton. Das führe zu einem Dilemma: "Es ist schlecht für die Alten, wenn sie sich Pflege nicht leisten können. Und es ist schlecht für die Pfleger, wenn sie nicht gut bezahlt werden."

Für Andreas Westerfellhaus, den Präsidenten des Deutschen Pflegerats, gibt es einen weiteren Grund für die unterschiedlich hohen Kosten: die Personalausstattung der Pflegeheime. "Es kann nicht sein, dass Heime in Brandenburg im Vergleich zu Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern mit 20 Prozent weniger Pflegekräften auskommen müssen", sagte er. Bundesweit müssten gleiche Standards für die Personalbemessung gelten.

© SZ vom 19.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: