Recht und Richter:Justitias subjektive Spielräume

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Der frühere Präsident des Bundesarbeitsgerichts, Thomas Dieterich, erlaubt tiefe Einblicke in das Innere seiner Zunft. Seine freimütige Biografie zeigt: Rechtsprechung ist viel mehr als die Auslegung von Gesetzen.

Von Rolf Lamprecht

Getragen und gestaltet wird die Rechtsprechung von Menschen mit ihren Stärken und Schwächen", die, findet der Autor, "auch gar nicht verborgen werden sollten." In dem ebenso klaren wie wahren Satz, den die Zunft nicht gern hören wird, steckt die Botschaft eines Buches, von dem hier die Rede sein soll. Die provokative Sentenz stammt nicht von einem Kritiker, sondern von einem Repräsentanten der Justiz - von Thomas Dieterich, der bis zu seiner Pensionierung als Präsident des Bundesarbeitsgerichts und davor als Bundesverfassungsrichter amtierte. Er nennt seine freimütige Biografie, die manchen Selbstbetrug der Innung entlarvt, ganz schlicht: "Ein Richterleben". Es war ihm nicht vergönnt, sein Buch noch in den Händen zu halten; es erschien zwei Wochen nach seinem Tod.

Nun wirken seine Erinnerungen wie ein Vermächtnis - und nehmen unter den juristischen Büchern einen einzigartigen Platz ein. Einzigartig deshalb, weil sie Blicke in das Innere einer geschlossenen Gesellschaft erlauben, die das Schweigen, zu dem das Beratungsgeheimnis verpflichtet, am liebsten auf alle Aktivitäten ausdehnen würde. Der Berufsstand pflegt - selbstverliebt in seine Anonymität - nach wie vor den Korpsgeist und sieht jeden scheel an, der "aus der Schule plaudert". Dieterichs ungeschützte Offenheit hat daher Seltenheitswert.

Der Neuling lernte: Alles darf bezweifelt und verworfen werden, es gibt kein richtig oder falsch

Kollegenschelte nimmt er billigend in Kauf. "Wie alle Amtsträger müssen sie sich der Kritik stellen." Das Beratungsgeheimnis rührt er nicht an. "In diesem Schutzbereich hatte ich mich auf anonymisierte Problemskizzen zu beschränken." Das ist aber auch der einzige Abstrich, zu dem er sich bereitfindet. Ansonsten schont er weder sich noch seinen Berufsstand. Dabei kommt manch unangenehme Wahrheit ans Licht, etwa dass ein junger Richter ins Wasser geworfen wird und sich das Schwimmen selber beibringen muss. Sein erster Auftrag: Krankheitsvertretung eines Einzelrichters, gleich acht Gütetermine, Aktenstudium in der Nacht zuvor. "Ich hatte das Gefühl, ohne Bremse auf eine Nebelwand zu fahren."

Göttin der Gerechtigkeit: Justitia hat zwar immer eine Waage und ein Schwert dabei, aber nicht zwangsläufig verbundene Augen. (Foto: Claus Schunk)

Dieterich hatte während der Referendar-zeit "unnahbare, unduldsame, rechthaberische Paragrafenfuchser voller Widerwillen" beobachtet - und sich geschworen, Gerichtsverhandlungen anders zu führen: "offen, unverkrampft und gesprächsbereit". In späteren Jahren fand er dafür ein Leitmotto: "Justitia mit offenen Augen und Ohren". Sein Vorsatz zahlte sich schon am ersten Arbeitstag aus - er erreichte in allen verhandelten Fällen einen Vergleich.

Der Leser nimmt am Abenteuer seiner intellektuellen Entdeckerreisen teil. Im-pressionistische Tupfer illustrieren den Reifeprozess - hier ein spannender Fall, da eine charismatische Persönlichkeit. Deutlich wird: Ein junger Richter muss sich Leitbilder suchen. Für Dieterich war das eine Vorsitzende Richterin, seinerzeit eine dominante Figur in Kassel. Sie nahm den jungen Kollegen ernst und pflegte mit ihm den Diskurs. Ihre Technik, bohrende Fragen zu stellen, war brillant - und ihre Souveränität nachahmenswert. Dieterich lernte: Alles darf bezweifelt und verworfen werden, es gibt kein richtig oder falsch, nur bedenkenswert und vertretbar oder unplausibel und unergiebig. In den zackigen "Richtig-oder-falsch-Juristen" sah er von nun an "Gegentypen".

Eher beiläufig wird dem Leser klar, dass ein guter Richter weder vom Himmel fällt noch im zweiten Staatsexamen geboren wird. Er muss, wie Dieterich, Lehr- und Wanderjahre absolvieren, Orts- und Gerichtswechsel hinnehmen, sich als Einzel- und als Kollegialrichter bewähren. Zu guter Letzt landete er beim Bundesarbeitsgericht, erst als einfacher und bald als Vorsitzender Richter.

Sein Resümee aus unzähligen Stunden im Beratungszimmer: Rechtsprechung er-schöpft sich nicht in der Auslegung von Gesetzen. Es ist vielmehr ein dynamischer Prozess mit irrationalen Elementen. Dieterich erlebte immer wieder, wie individuell Kollegen auf brisante Rechtsfragen reagieren - "je nach Vorverständnis, Intelligenz und Temperament vollkommen unterschiedlich". Sein Fazit: "Fast alle maßgebenden Auslegungsmerkmale" ließen "breite subjektive Spielräume offen."

Aus der Feder eines der höchsten Rich-ter sind das Schlüsselsätze, die bei seinen Kollegen nicht uneingeschränkt Zustimmung finden dürften. Die einen streiten subjektive Einflüsse kategorisch ab, die anderen nehmen sie wahr, würden das aber nie laut sagen. Beifall werden ihm nur diejenigen zollen, die eine Einsicht des Rechtsphilosophen Arthur Kaufmann verinnerlicht haben: "Die Unabhängigkeit des Richters wächst in dem Maße, wie er sich seiner Abhängigkeiten bewusst wird."

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(Foto: ostrowski)

Thomas Dieterich: Ein Richterleben im Arbeits- und Verfassungsrecht. Berliner Wissenschaftsverlag Berlin 2016, 282 Seiten, 34 Euro.

Zu denen auch Machtspiele gehören. Dieterich machte bei seiner Ankunft in Kassel (bis 1999 Sitz des Bundesarbeitsgerichts, seither in Erfurt) die Erfahrung, dass frisches Blut nicht unbedingt willkommen ist. Er erlebte, dass ein "Neuer", der Erfahrungen auf dem Gebiet mitbringt, für das sein Senat zuständig ist, wider alle Vernunft dort nicht mit offenen Armen empfangen wird. Sondern auf Abwehr stößt. Warum? Weil er mit lästigen Fragen oder Ideen die Routine ("Schon immer so gemacht . . .") durcheinanderbringen könnte. Der Autor war "einsam im Senat".

Von den Versuchen der Parteien, Einfluss aufs Personal zu nehmen, fühlte sich Dieterich (obwohl selbst Mitglied der SPD) peinlich berührt. Er habe da "ein ganz neues Politikverständnis kennen" gelernt, das "sich weniger an Inhalten orientiert, als vielmehr an Machtverteilung, an einer Personalpolitik, die Loyalitätspflichten be-gründen und verwalten will".

Für einen diskursfreudigen Juristen wie ihn war die Wahl zum Verfassungsrichter ein Glücksfall. Er genoss die Karlsruher "Beratungskultur", die nicht zuletzt darauf basiert, dass der überstimmte Richter sei-ne "Abweichende Meinung" zu Protokoll geben darf. Bei der "Leseberatung", in der um jedes Wort gerungen wird, fühlte sich Dieterich in seinem Element. Schopenhauers Definition - "der Stil ist die Physiognomie des Geistes" - erscheint wie zugeschnitten auf ihn als Autor.

Dieterich gehörte im Ersten Senat zu einer Gruppe von Richtern, denen die Republik eine Reihe von wegweisenden Grundsatzurteilen verdankt. In einem, das Rechtsgeschichte machte, zeigte er Flagge: als Jurist, der den Begriff "sozialer" Rechtsstaat im Grundgesetz ernst nimmt. Es ging da um eine junge Frau, die (gerade volljährig geworden) für ihren Vater, einen Immobilienkaufmann, gebürgt hatte - auf einem raffiniert ausgetüftelten Bankformular. Der Vater machte Pleite. Die Tochter sollte in Höhe von 100 000 Mark so lange haften, bis die Schuldsumme von 2,4 Millionen Mark getilgt war. Sie hätte bis zu ihrem Lebensende im Schuldturm gesessen. Der Bundesgerichtshof habe das alles, so Dieterich, "wie eine Dampfwalze mit dem stereotypen Argument 'Vertrag ist Vertrag' niedergewalzt." Dagegen begehrte er auf. Wo ein "weit überlegener Vertragspartner seine Stellung derartig rücksichtslos ausnützt", dürfe der Staat nicht "völlig neutral und passiv bleiben".

Sätze, die charakteristisch sind für ein Buch, das die Wahrnehmung der Justiz um wesentliche Nuancen verschiebt. Das Sein, das Dieterich schildert, ist letztlich nicht weniger schön als der Schein, den das Publikum seit eh und je zu sehen bekommt. Nur eben anders, authentischer.

Rolf Lamprecht schreibt über Rechtspolitik. Er ist seit 1968 Berichterstatter bei den Obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe.

© SZ vom 13.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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