Prozess gegen Jacques Chirac:Alter vor Gleichheit

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In Paris hat ein Prozess begonnen, der Frankreich entzweit: Steht der ehemalige Präsident Chirac zu Recht wegen Korruptionsverdacht vor Gericht oder soll man den alten Herren besser in Ruhe lassen? Ein französischer Präsident ist schließlich nicht irgendein Bürger.

Stefan Ulrich, Paris

Wenn es um Jacques Chirac geht, schlagen zwei Seelen in Frankreichs Brust. Die eine findet, dem Alt-Präsidenten müsse der Prozess gemacht werden, weil er als Bürgermeister von Paris zahlreiche Leute auf Kosten der Steuerzahler zum Schein angestellt haben soll. Der Gleichheitsgrundsatz - "égalité oblige" - gebiete es, Chirac wie jeden anderen Bürger zu behandeln. Die andere Seele hält dagegen, man möge den betagten Herrn doch bitte in Frieden lassen, schließlich habe er viel fürs Vaterland geleistet.

Der französische Ex-Präsident Jacques Chirac (hier ein Foto von 2006) steht wegen mutmaßlicher Korruption und illegaler Parteienfinanzierung vor Gericht. (Foto: dpa)

In dieser Gemengelage hat am Montag vor der 11. Strafkammer des Landgerichts Paris der Prozess gegen den früheren Staatschef begonnen; zunächst ohne ihn. Zunächst mussten die Richter entscheiden, wie mit dem prominenten Angeklagten umzugehen ist. Ein Gutachten, das die Angehörigen in letzter Minute vorlegten, kommt zu dem Schluss, Chirac sei wegen einer Gehirnerkrankung und daraus folgender Gedächtnisstörungen kaum verhandlungsfähig.

Sein Schwiegersohn Frédéric Salat-Baroux sagt: "Seine Teilnahme am Prozess ist unter menschenwürdigen Bedingungen unmöglich." So beschlossen die Richter am Montag, dass Chirac nicht persönlich zum Prozess erscheinen müsse und sich stattdessen vertreten lassen dürfe. Folglich werden die Verteidiger für Chirac auftreten. Der frühere Staatspräsident hat bereits alle Vorwürfe abgestritten.

In dem Fall geht es um mutmaßliche politische Korruption und illegale Parteienfinanzierung aus den Jahren 1977 bis 1995, als Chirac Bürgermeister von Paris war. In dieser Zeit soll er 28 Menschen auf Kosten der Stadt angestellt haben, die in Wirklichkeit für Chiracs gaullistische RPR-Partei, für seinen Präsidentschaftswahlkampf oder für politische Freunde arbeiteten. So soll Paris ein Millionenschaden entstanden sein. Die Affäre kam zwar bald ans Licht, blieb aber zunächst folgenlos, weil Chirac als Staatspräsident von 1995 bis 2007 Immunität vor Strafverfolgung genoss. Er mag gehofft haben, danach werde alles versanden.

Eine hartnäckige Untersuchungsrichterin kam jedoch zu dem Schluss, der Gaullist sei "Gestalter, Urheber und Nutznießer" eines korrupten Systems gewesen. Daher klagte sie ihn 2009 an. Das Verfahren wurde mit einem ähnlichen Fall aus Chiracs Bürgermeisterjahren verbunden. Nun werden ihm Untreue, Unterschlagung öffentlicher Gelder und Amtsmissbrauch vorgeworfen. Die theoretische Höchststrafe beträgt zehn Jahre Gefängnis.

Warum leistet ein Unschuldiger Schadenersatz?

Nun ist Chirac jedoch, Égalité hin oder her, nicht irgendein Bürger. Französische Präsidenten genießen eine Machtfülle und eine Aura, wie sie in Demokratien selten sind. Das wirkt über die Amtszeit hinaus. Noch nie in der Geschichte der Nachkriegsrepublik wurde einem ehemaligen Präsidenten der Prozess gemacht, auch das erklärt das Unbehagen an diesem Verfahren. Anti-Korruptions-Aktivisten befürchten, dass das politische Establishment mit allen Mitteln versuchen könnte, das Verfahren zu zerschlagen. Die Staatsanwaltschaft hat vor dem Prozess im Gegensatz zur Untersuchungsrichterin für eine Einstellung des Verfahrens plädiert.

Zudem ist die wichtigste Nebenklägerin, die Stadt Paris, weggefallen: Chirac und die heutige gaullistische Nachfolgepartei UMP von Präsident Nicolas Sarkozy haben sich verpflichtet, Paris mit 2,2 Millionen Euro zu entschädigen. Im Gegenzug verzichtete die Stadt auf die Nebenklage. Chirac muss sich nun fragen lassen, warum er Schadenersatz leistet, wenn er sich unschuldig wähnt. Außerdem fragen sich viele Bürger, weshalb die Sozialisten, die heute Paris regieren, sich auf den Deal mit ihren Gegnern eingelassen haben.

Kurzum: Die Sache hat Hautgout. Der könnte noch zunehmen, falls der Prozess wegen gesundheitlicher Probleme des Angeklagten platzt. Die Wahrheit über die Anstellungspraxis der Stadt Paris unter Chirac käme dann wohl nie ans Licht. Manche Politiker fordern daher bereits, verfassungsrechtliche Konsequenzen zu ziehen.

"Die präsidentielle Immunität steht in Frage", sagt die grüne Präsidentschaftskandidatin und frühere Untersuchungsrichterin Eva Joly. Der sozialistische Ex-Minister Pierre Moscovici verlangt sogar, die Immunität der Staatschefs abzuschaffen: Der Fall Chirac zeige, dass sie letztlich zu einem lebenslangen Schutz vor Strafverfolgung führen könne.

© SZ vom 06.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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