Proteste in der Türkei:Reif für eine neue Partei

Junge Demonstranten in einem Camp im Istanbuler Gezi-Park (Foto: dpa)

Sie sind jung und sie wollen nicht in ideologischen Gräben verharren: Die Demonstranten in der Türkei können mit den etablierten Parteien nichts anfangen. Was dem Land fehlt, ist eine ökologisch sensible, soziale und liberale Kraft.

Ein Kommentar von Christiane Schlötzer

Die Protestbewegung in der Türkei ist jung und sie ist parteifrei. Das zeigt nicht nur der Augenschein auf dem Taksim in Istanbul. Eine Untersuchung der Istanbuler Bilgi-Universität belegt dies nun ebenfalls. Die Wissenschaftler mussten sich in der Eile mit einer Online-Befragung begnügen, aber in diesem Fall erhöht dies eher die Aussagekraft. 40 Prozent der Protestler sind demnach unter 25 Jahren, mehr als 50 Prozent waren zuvor noch nie bei einer Demonstration dabei, und 70 Prozent fühlen sich keiner Partei verbunden.

Damit dürfte es für jede etablierte politische Kraft in der Türkei schwer werden, diese Bewegung der Unzufriedenen für sich zu vereinnahmen. Dass aus der Welle der Wut allerdings eine neue politische Partei entsteht, ist noch keineswegs gewiss. Die Forderungen der Taksim-Jugend zeigen aber, was der Türkei fehlt: eine ökologisch sensible, soziale und liberale Kraft, die nicht in den alten ideologischen Gräben verharrt. Deshalb hat diese Jugendbewegung weder etwas gegen Kopftuchträgerinnen einzuwenden, noch will sie sich Alkohol verbieten lassen.

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Armenier, Kurden, Türken, Aleviten, Sunniten - alle gleich. Auch solche Sätze kann man im Gezi-Park hören und lesen. Die junge Revolte, die auch viele Ältere mit ihrem Schwung mitreißt, könnte dem Land einen Modernisierungsschub geben, wenn die Regierung sie nicht weiter niederknüppeln lässt.

© SZ vom 07.06.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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