Proteste in der Türkei:Generation Gezi braucht die EU

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Protest gegen Erdoğan: Demonstranten auf dem Taksim in Istanbul (Foto: dpa)

Die Gewalt in der Türkei droht die EU-Beitrittsgespräche ernsthaft zu schädigen. Doch ein Stillstand der Verhandlungen würde die Falschen treffen. Ohne EU drohen der Türkei Isolation und Wirtschaftsabschwung, einen Schuldigen dafür würde Premier Erdoğan leicht finden: die Demokratiebewegung.

Ein Kommentar von Christiane Schlötzer, Istanbul

Es hat ein wenig gedauert, bis die neue türkische Demokratiebewegung verstanden hat, dass über ihr Schicksal nicht allein auf dem glutheißen Istanbuler Taksim-Platz entschieden wird, sondern auch in gut gekühlten Konferenzsälen von Brüssel und Berlin. So wurden die Appelle, Briefe und Bitten an die EU-Außenminister und die deutsche Kanzlerin erst in letzter Minute und in großer Eile formuliert. Weshalb auch nicht gewiss ist, dass sie ihre Adressanten noch überzeugen werden. Von "Bestürzung" ist in einem dieser Schreiben die Rede, verfasst haben es türkische Unternehmer, Universitätsprofessoren, Künstler. Sie fürchten, die "europäische Sanktion" werde die Falschen treffen.

Europa war in der Türkei zuletzt kaum noch ein Thema. Seit drei Jahren kommen die EU-Gespräche nicht vom Fleck, kein einziges neues Verhandlungskapitel wurde seit Juni 2010 eröffnet. Die Regierung in Paris blockierte und die in Ankara drängte nicht. Genauso wenig wie die Opposition im türkischen Parlament. Eine außerparlamentarische Opposition aber gab es all die Jahre nicht, die Medien waren kujoniert, viele Intellektuelle in der inneren Emigration. Nun aber haucht der seit gut drei Wochen andauernde Aufstand der Generation Gezi auch den Europa-Freunden in der Türkei neuen Atem ein.

Die Angst, die Türkei könnte den europäischen Anker ganz verlieren, macht viele Türken jetzt nervös, die sich längst zu Europa zugehörig fühlen. Ihr Lebensstil ist nicht anders als der von Menschen in Rom oder Berlin. In dem Nebel aus Pfefferspray und Tränengas, der Ankara, Izmir und Istanbul eingehüllt hat, aber haben sie jede Hoffnung verloren, Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan werde je ein europäischer Politiker werden.

Demokratiebewegung als Sündenbock

Dasselbe sagen auch jene EU-Politiker, die nun mit neuer Verve argumentieren, die Türkei gehöre eben nicht zu Europa und werde nie dazugehören, weshalb es besser sei, sich die Mühe weiterer Verhandlungen zu ersparen. Genau das ist jedoch die türkisch-europäische Krux: Ein weiterer Stillstand der EU-Gespräche würde Ankaras Tendenz zur Abschottung verstärken, eine lange Eiszeit in den Beziehungen zwischen der Türkei und der EU wäre wohl die Folge. Die Türkei steht ohnehin vor einer Periode politischer Instabilität. Ein Dauerkonflikt mit der EU wird diesen Trend verstärken. Das dürfte auch die türkische Wirtschaft spüren. Der große Boom scheint ohnehin vorbei. Die Schuldigen für alle Unbill wird Erdoğan leicht finden: die neue Demokratiebewegung.

Die EU-Verhandlungsmasse ist in viele Einzelpakete geteilt. In Kapitel 22, dessen Öffnung nach der Aufhebung des französischen Vetos nun möglich wäre, geht es um Regionalpolitik und die Strukturfonds. Das klingt nach Bürokratie und wenig Bürgernähe. Für die Regionen der Türkei, zumal die kurdischen im Südosten, wäre aber jeder Schritt, der zu mehr finanzieller Autonomie von Ankara führt, ein Segen. Es geht dabei um Alltägliches wie Abfallentsorgung und Umweltinfrastruktur. Europäische Experten haben in der Türkei entsprechende Vorarbeiten geleistet. Ihre Mühe wäre umsonst gewesen, wenn nichts weitergeht.

Wichtiger noch wäre Kapitel 23: Justiz und Grundrechte. Mit dessen Öffnung sollte die EU Ankara so schnell wie möglich konfrontieren. Deutsche und türkische Richter trafen sich zuletzt bereits zum mehrtägigen Meinungsaustausch. Polizisten aus der Türkei haben in Deutschland erfahren, wie ihre Kollegen in Europa ausgebildet werden. Solche Begegnungen sind Teil einer unauffälligen, aber steten Annäherung, ohne die aus der Türkei in der Tat nie ein europäisches Land werden kann.

Dies alles steht zur Disposition, wenn die EU sich allein auf Erdoğan fixiert.

© SZ vom 24.06.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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