Porträt von Angela Merkel:Magerkost für die satte Mehrheit

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Die Unionskandidatin steht unter dem Druck, ihre Härte immer neu beweisen zu müssen, und setzt auf den Trick der Tricklosigkeit - denn was sie zu verheißen hat, ist trocken Brot.

Stefan Klein

Es redet der erste Vorredner, es redet der zweite Vorredner, es redet der dritte Vorredner - und Angela Merkel muss die Endlosschwätzer nicht nur aushalten, sie muss auch noch gute Miene dazu machen. Schließlich haben sich ein paar Tausend Menschen auf dem Koblenzer Münzplatz versammelt, und die blicken alle auf sie. Angela Merkel ist ja keine Frau des langen Vorspiels, Girlanden, schmückendes Beiwerk, Small talk, das alles liegt ihr nicht.

Angela Merkel, Kanzlerkandidatin der Union (Foto: Foto: dpa)

Sie kommt gerne schnell zum Punkt, und das würde sie, man sieht es ihr an, auch jetzt gerne tun, schließlich geht es um Deutschland, um die Zukunft, um die Macht, aber sie muss sich üben in dem, was ihr der Herrgott nur in einer eher kleinen Dosis mitgegeben hat: Geduld. Und dabei so freudig aussehen, als gäbe es nichts Schöneres, als auf einer Bühne zu stehen und den Worten von drei Provinzpolitikern zu lauschen. Nur: Wie geht das, freudig aussehen? Es gibt Menschen, bei denen ist das Natur. Bei Angela Merkel ist es Programm. Man hört ihr Hirn schier rufen, lächle, Angela, lächle, und prompt erscheint ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Aber es verglimmt gleich wieder.

Man hat sie in dieser Situation schon erlebt, wie sie verstohlen auf ihre Uhr blickte. Aber das wurde ihr abgewöhnt, schließlich soll Frau Merkel ja den Leuten, die voller Erwartungen zu ihr kommen, den Eindruck vermitteln, dass sie sich wohl fühlt in deren Stadt und sich nicht langweilt. Das Problem ist nur, dass Angela Merkel sich in ihrer eigenen Haut noch nicht mal wirklich wohl zu fühlen scheint.

Sie wisse nicht, wohin mit ihren Händen und mit ihrem Körper, hat sie vor Jahren mal gesagt - und sie weiß es immer noch nicht. Ihre Finger ziehen am Jackensaum, sie zupfen am Jackenknopf, sie verschränken sich, sie lösen sich wieder. Erst als der dritte Vorredner ein Erbarmen hat und das Mikrophon endlich freigibt für Angela Merkel, dürfen die Hände zeigen, wozu sie nütze sind. Gesten können sie: Worte unterstreichen, Ausrufezeichen setzen, den Takt vorgeben. Am Mikrophon läuft Angela Merkels Motorik ziemlich rund. Es ist der Freitag letzter Woche, und obwohl auch diese Rede aus den gleichen Versatzstücken besteht wie immer, ist doch etwas anders.

Der nötige Killerpunch

Sie hatte es uns bereits auf dem Flug von Berlin nach Koblenz angekündigt. Aus dem Wahlkampf sei ein "destruktiver Wettbewerb von Seiten der SPD " geworden, die versuche, Verunsicherung und Angst zu erzeugen. Alles, was die CDU vorschlage, werde als unsozial dargestellt und als Untergang des Abendlandes, und darauf könne es nur eine Antwort geben - "harten Angriff" .

Sie hat ja das Gefühl, dass sie immer wieder aufs Neue den Beweis erbringen muss, auch wirklich hart sein zu können. Obwohl Angela Merkel die Skalps mächtiger Männer der CDU an ihrem Gürtel hängen hat, meint sie in der Partei noch Zweifel zu spüren, ob sie auch wirklich den nötigen Killerpunch hat. Auch deshalb hat sie es dem Kanzler in der letzten Bundestagsdebatte so kräftig gegeben, hat sie ihn zuvor im Duell so munter attackiert - und deshalb will sie jetzt auch in ihrer Wahlkampfrede einen Zacken zulegen.

Paul Kirchhof und Angela Merkel (Foto: Foto: dpa)

Die Landgräfin also wird hart in Koblenz. Was die Sozialdemokraten derzeit aufführten, ruft sie, sei eine Verleumdungskampagne im Stil und in der Sprache der PDS. Beispiele würden absichtlich falsch gerechnet, das sei nicht redlich, "der Bundeskanzler würde sagen: Es ist grob unanständig".

Und Paul Kirchhof? Der Mann, der mit seinen Steuerplänen überhaupt erst die Steilvorlage geliefert hat für die Angriffe der Sozis? Nicht lange her, da tauchte er in Merkels Reden noch "in seiner hoffentlich neuen Funktion als Finanzminister" auf, und beim CSU-Parteitag in Nürnberg wurde er von ihr gar als eine Art Wunderheiler präsentiert, vergleichbar mit Ludwig Erhard, dem Vater des Wirtschaftswunders nach dem Krieg. In Koblenz sagt Merkel nur mehr einen knappen Satz: "Ich bin froh, dass wir Paul Kirchhof gewonnen haben für die Vereinfachung unseres Steuersystems." Sie weiß, dass der Name keine Attraktion mehr ist.

War' s eine Fehlkalkulation? Alle preisen sie ja die analytisch-strategischen Fähigkeiten der Angela Merkel. Heiner Gei ß ler sieht sie "rationale Verlässlichkeit" ausstrahlen, und Harald Lastovka, Oberbürgermeister von Stralsund und langjähriger Freund und Mitstreiter Angela Merkels, sagt bewundernd über die gelernte Physikerin: "Sie analysiert wissenschaftlich, und auf der Basis besetzt sie Posten mit Fachleuten. Darauf kann sie bauen."

Aber es gibt auch Handicaps. CDU-Parteitag in Dortmund, Ende August. Es ist eine beeindruckende Phalanx von Ministerpräsidenten, die gekommen ist, ihrem Star Angela zu huldigen. Es sind die Kochs, Wulffs und Müllers, alles Leute, die in der Partei seit jungen Jahren zu Hause sind, deren Strukturen kennen wie ihr Wohnzimmer, dieselbe Sprache sprechen, über dieselben Witze lachen und sich ganz sicher waren, dass sie die Macht im Land eines Tages unter sich aufteilen würden. Stattdessen müssen sie nun Spalier stehen für eine, die von der Seite eingestiegen ist.

Abgehängt und ausgebootet

Roland Koch während der Dortmunder Rede Angela Merkels: Man sieht ihn, wie er fleißig klatscht, nicht gerade enthusiastisch , aber immerhin. Nein, daran lässt er es nicht fehlen. Es ist das Gesicht, das ihn verrät, das Gesicht mit dem typisch Koch' schen Liebreiz. Es besteht an diesem Tag aus einem einzigen Fragezeichen: Wie hat es nur kommen können, dass diese Frau uns alle überholt und ausgebootet hat? Diese Frau, die 1986 - da ist Koch schon stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungen Union - als DDR-Bürgerin erstmals in die Bundesrepublik reisen darf und staunt wie ein Kind an Weihnachten.

Zum Beispiel über den Intercity, in dem sie von Hamburg nach Konstanz fährt: "Diese Schienentechnik! Meine Güte. Gigantisch." Die es empörend findet, dass junge Leute sich mit ihren Schuhen quer über die Sitze fläzen: "Ungeheuerlich, der schöne Zug." Die, von den Krimis im Westfernsehen geprägt, nicht weiß, ob man sich als Frau im wilden Westen allein ein Hotelzimmer nehmen kann. Fünf Jahre später wird sie Ministerin im Kabinett Kohl, zwölf Jahre später ist sie Generalsekretärin der CDU, 14 Jahre später deren Vorsitzende.

Ein Leben im Zeitraffer. Eine Reise von einem erstaunlichen Erfolg zum nächsten. Die Alphatiere um sie herum sind ruhig gestellt - aber für wie lange? Sind nicht die Rufe der Ministerpräsidenten nach Friedrich Merz ein erstes Zeichen der Unruhe? Vor kurzem noch dachte man, diese Wahl werde für Angela Merkel gleichsam zur Krönungsmesse. Seit ein paar Tagen haben die Schwarz-Gelben in Umfragen keine Mehrheit mehr, was am Buhmann Kirchhof liegen könnte, aber auch daran, wie Angela Merkel ihren Wahlkampf angelegt hat.

Stahlwerk Georgsmarienhütte im Niedersächsischen, Angela Merkel spricht bei der Betriebsversammlung. Sie sagt: "Sie können jetzt ruhig noch klatschen, ich erwarte nicht, dass Sie das beim nächsten Punkt auch noch tun." Der nächste Punkt ist der Kündigungsschutz, den die CDU zwar nicht beseitigen, wohl aber einschränken will. Merkel begründet, Merkel erklärt, Merkel versucht zu beruhigen.

Es ist tapfer, wie sie den Stein den Berg hinaufzuwuchten versucht, aber es ist auch mühsam, und er muss ja noch weiter hoch. Nein, die Tarifautonomie wolle man nicht abschaffen, völliger Unsinn. Aber ein Stück mehr Flexibilität müsse sein. Ja, die Feiertags- und Nachtzuschläge sollen nicht mehr steuerfrei sein, aber deswegen solle der Betroffene am Ende nicht weniger in der Tasche haben.

Einerseits, andererseits, differenzierte Argumente zur Erklärung sozialer Zumutungen. Ein alter Wahlkampfstratege wie Heiner Geißler sieht es mit gemischten Gefühlen. Der hat früher, als die Wahlkämpfe noch nach sehr holzschnittartigen Mustern geführt wurden, mit plakativen Sprüchen gearbeitet, Freiheit statt Sozialismus. Dass Merkel nuancierte Antworten zu geben versucht, nötigt ihm einerseits Respekt ab, andererseits macht es ihm Sorgen.

Was seine Partei zum Kündigungsschutz vorschlägt, hält Geißler für Unsinn, aber davon einmal ganz abgesehen: Allein der Zeitaufwand, den es bedeute, so einen Plan in einer Wahlkampfrede in all seinen Facetten zu entfalten, sei ein gewichtiger Nachteil gegenüber einem pauschal polternden Gegner. Und Pluspunkte an der Basis dürfte es auch keine bringen. Die Stahlwerker von Georgsmarienhütte indes sind freundlich zu der Frau am Rednerpult. Mehr als ein Gemurmel erhebt sich nicht. Angela Merkel sagt: "Nun brauchen Sie mich dafür nicht zu lieben, aber ich wollte das mal erklären."

Eine Stunde später steht sie auf dem Rathausplatz in Osnabrück. Geburtsort von Paul Kirchhof, Geburtsort von Christian Wulff, Geburtsort von Erich Maria Remarque, Stadt des Westfälischen Friedens. Jeder auch nur halbwegs begabte Redner würde hier allerlei hübsche Kränzlein winden, würde sie historisch verzieren und am Ende sagen: Im Westen doch was Neues, oder so ähnlich. Angela Merkel guckt auf die Uhr, als sich Christian Wulff über Visionen verbreitet, und als sie dran kommt, ist sie sehr schnell bei den Lohnzusatzkosten und der Notwendigkeit, sie zu senken, weshalb es keinen anderen Weg gebe, als die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Da buhen sie in der westfälischen Stadt des Friedens, und Angela Merkel sagt: "Ich erwarte ja gar keinen brausenden Beifall."

Die Pflaumen hängen noch

Nein, den erwartet sie tatsächlich nicht. Sie versteht sich nicht aufs Buhlen und Balzen. Sie verspricht kein Schlemmermahl, sondern ausgesprochene Magerkost, und diese Ehrlichkeit, so ihr Kalkül, werde ihr der Wähler mit seiner Stimme vergelten. Wenn es denn mal aufgeht, dieses Kalkül.

Vor der Wahl sagen, was wir nach der Wahl machen. Nichts versprechen, wovon wir nicht auch wissen, dass wir es halten können. Nichts auf die lange Bank schieben. So redet sie, die Redliche, und vielleicht hat Lothar de Maizière ja doch Recht. Wer so geradeheraus wirkt, lautet eine öfter geäußerte Vermutung, der sei vermutlich ganz besonders raffiniert. Lothar d e Maizière, der Angela Merkel gut kennt, sagt, ihr Trickreichtum bestehe in Wahrheit darin, dass sie völlig ohne Tricks arbeite, nur dass sich das viele nicht vorstellen könnten.

Gera. Angela Merkel steht auf der Bühne, blickt auf den Patienten Deutschland und sagt: "Ich habe die Röntgenbilder gesehen, es sieht katastrophal aus, wir müssen da einiges rausnehmen. Ihr Bein muss ganz weg, und Sie werden danach auch wahrscheinlich nicht mehr sprechen können." Nein, falsch, so weit geht die Ehrlichkeit denn doch nicht. In den Mund gelegt hat ihr den Satz vielmehr der Regisseur Christoph Schlingensief, und zwar gar nicht mal bösartig, denn er findet Merkel, wie er der Zeit anvertraut hat, "supersüß." Das ist nicht der Ausdruck, der uns als E rstes eingefallen wäre, obwohl es, zugegeben, durchaus etwas hat, mit Merkel im Flugzeug zu sitzen und über Pflaumenkuchen zu reden, für den sie bei Kennern berühmt ist.

"Es ist ja jetzt Pflaumenzeit, Frau Merkel, aber zum Pflaumenkuchenbacken kommen Sie vermutlich nicht, oder? " - "Nein, bis jetzt habe ich noch keinen gebacken." - "Noch keinen einzigen? " - "Die Pflaumen hängen allerdings noch am Baum, insofern..." - "... gibt' s Hoffnung?" - "Vielleicht am Wahlsonntag, am Vormittag."

Solche Gespräche, aber in Gera ist es eher ein bisschen ungemütlich, weil sich Schreier und Pfeifer unter die Zuhörer gemischt haben. Heuchler, Heuchler, rufen sie und reimen: "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut." Es ist nicht leicht, gegen die Geräuschkulisse anzureden. Merkels Stimme wird laut und schneidend. Bei einem Mann würde man das vermutlich positiv bewerten, als ein Zeichen für Härte und Durchsetzungskraft. Aus dem Mund einer Frau nimmt man es eher als unangenehm war. Oder Schweißflecken. Legt der sich aber ins Zeug, würde man bei einem Mann sagen, bewundernd. Igitt, bei einer Frau. Eine unvorteilhafte Frisur würde man einem Mann zur Not als Lässigkeit durchgehen lassen, bei einer Angela Merkel wird sie zur nationalen Frage. Da nimmt das ganze Volk Anteil an den Verwandlungskünsten eines Udo Walz und atmet auf, als der schließlich in einem Boulevardblatt den Durchbruch verkündet: "Die Endfrisur in einigen Monaten wird ein gestufter Pagenkopf sein, mit Pony, der zur Seite geföhnt wird und luftiger ist."

Dass Angela Merkel unter diesem Brennglas machohafter Mäkeleien ihren luftigen Pagenkopf nicht verloren hat, spricht für ihre Nervenstärke. Dennoch kann man den Druck sehen, der auf ihr lastet. Zum Beispiel an den Fingernägeln. Zum Beispiel auch an ihren Mundwinkeln. Die Fotografin Herlinde Koelbl hat für ihr Buch "Spuren der Macht" Angela Merkel von 1991 bis 1998 jedes Jahr einmal fotografiert - von Mundwinkeln keine Spur, selbst beim letzten Mal noch nicht, und da war Merkel immerhin schon CDU- Generalsekretärin. Vielmehr ein glattes, rundes Mädchengesicht. Eingegraben haben sich die Mundwinkel erst mit zunehmender Macht, aber deren Ansprüche haben sie dann auch wieder weitgehend verschwinden lassen - dank der Methoden der kosmetischen Retusche.

Gesamtdeutsches Gefühl

Was also lässt sich sagen über die runderneuerte Angela Merkel, als wir sie das nächste Mal sehen, auf dem Domplatz in Magdeburg? Nur das Beste: Frisur sitzt, Hosenanzug sitzt, Falten kaum zu sehen. Wieder eine Stadt im Osten, wieder sind Störer da. Es ist auffällig, dass die Frau aus dem brandenburgischen Templin keinen Bonus zu haben scheint bei ihren Landsleuten im Osten.

Aber sie tritt ja auch nicht als deren Sachwalterin auf. Den Thüringern schmeichelt sie, dass die bei der Pisa-Studie so gut abgeschnitten haben, anderswo rühmt sie die Tatkraft der Ossis - "da wird angepackt und nicht lange überlegt. Diese Mentalität muss auf ganz Deutschland übertragen werden." Aber das ist es dann auch schon. Keine Rezepte, keine Vorschläge zur Überwindung der ostdeutschen Misere, und vielleicht ist das ja kein Zufall bei einer, die sich von ihrer Herkunft inzwischen weit entfernt hat.

Als Angela Merkel sich mit dem Kanzler duellierte, da fand das Ganze in einem Fernsehstudio im Berliner Stadtteil Adlershof statt. Ganz in der Nähe davon stand früher das Dienstgebäude 2.14 des Zentralinstituts für Physikalische Chemie (ZIPC) - Merkels Arbeitsplatz als Diplomphysikerin zwischen 1978 und 1990. Auf dem Weg zum Duell ist sie an der Stelle vorbeigefahren, und natürlich seien da "Erinnerungen wach geworden", die morgendliche Fahrt mit der Bahn zum S-Bahnhof Adlershof, der Gang über die Rudower Chaussee zu ihrer Baracke, aber gleichzeitig, sagt sie, sei das alles "auch schon ganz schön weit weg" gewesen. Merkel sagt über sich, sie gehöre "zu den Menschen, die sich gesamtdeutsch fühlen".

So gesamtdeutsch, dass sie beim Nürnberger Parteitag der CSU in ihrer Ansprache einen interessanten Satz sagt. Es ist die Passage, als von der Katastrophe in New Orleans die Rede ist, von der Solidarität, die jetzt angesagt sei und von der Notwendigkeit zu helfen. Und zwar auch, weil es eine Gelegenheit sei, sich zu revanchieren, denn: "Viele werden sich daran erinnern, wie uns die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg beigestanden haben."

Da stoßen sich zwei Kameraleute vor dem Rednerpult an, und der eine sagt kichernd: "Wusst' ich noch gar nicht, dass die Amis damals den Ossis geholfen haben." Ganz ähnlich war es auch im Bundestag bei der Debatte über den 68er Joschka Fischer: Sie argumentierte, schreibt Gerd Langguth in seiner Merkel-Biografie, nicht aus ihrer ostdeutschen Erfahrung heraus, "sondern tat so, als hätte sie immer schon in Westdeutschland gelebt."

"Geh' nach Hause"

In Magdeburg geht es um etwas rustikalere Vergleiche. "Wir sind keine Kälber, wir wählen selber" , brüllen die Protestierer und spielen ganz offensichtlich auf den Obersten der klugen Bayern an, der die angeblich PDS-hörigen Ossis mit den "dümmsten Kälbern" verglichen hatte, die ihre Metzger selber wählen. Angela Merkel redet langsamer und schleppender als sonst.

Später sagt sie, in dem allgemeinen Krakeel sei eine Stimme gewesen, eine hohe Frauenstimme, die habe sie schrecklich irritiert und gezwungen, sich mehr zu konzentrieren als sonst. Eigentlich kann sie ihre Rede ja längst auswendig. Am Ende der Woche wird Merkel sie fünfzig Mal gehalten haben. Flexibilität, Zusatzkosten, sozialverträglich ausgestalten, Leistung abverlangen, Vertrauen entstehen lassen - es sind die immer gleichen Begriffe , die jetzt über den Domplatz hallen und von der makellos renovierten Fassade der Staatskanzlei auf der anderen Seite leicht verzögert zurückgeworfen werden.

Langsam wird es dunkel auf dem Platz. Die Leute stehen im Halbkreis vor der Bühne, andere sitzen auf Gedenksteinen, die an längst vergessene Könige und an Zeiten erinnern, als Schlachten noch wirkliche Schlachten waren und keine Wahlschlachten. Vom Dom aus wirkt die Szene puppenhaft klein, nur von der großen Videowand sieht man etwas Weißes leuchten . Es ist das Gesicht von Angela Merkel, und man hört es rufen: "Was die Amerikaner können, können wir auch", und ein schriller Chor antwortet: "Geh' nach Hause,geh' nach Hause."

Am Wahlsonntagmorgen wird vielleicht ein Pflaumenkuchen gebacken werden. Und am Abend? Wird das Hirn dann wieder rufen müssen, lächle, Angela, lächle? Oder wird sie es von selber tun? Geht alles nach Plan, dann vollzieht sich, was Angela Merkel 1996, seinerzeit Umweltministerin, nach einem Streit über Atommüllentsorgung über den damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten, einen gewissen Gerhard Schröder, gesagt hat: "Ich werde ihn eines Tages in die Ecke stellen. Ich brauche dazu noch Zeit, doch eines Tages ist es soweit. Darauf freue ich mich schon."

© SZ vom 15.9.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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