Polen:Nationaler Egoismus

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Beata Szydlo von der PiS betont, wenn ihr Land Flüchtlinge aufnehme, zahle alles die EU. (Foto: imago/zuma press)

Die polnische Regierung will keine Flüchtlinge aufnehmen. Doch weil das EU-Land so stark von Brüsseler Fördergeldern profitiert, gerät Warschau im Zwist um die Verteilung allmählich unter Zugzwang.

Von Florian Hassel, Warschau

Der Regierungssprecher hatte eine wichtige Botschaft zu verkünden, als sich Polen bereit erklärte, bis Ende 2017 zumindest 2000 Flüchtlinge aufzunehmen. "Alle Kosten, die mit dem Aufenthalt dieser Menschen in Polen verbunden sind, werden von der Europäischen Union übernommen", sagte Cezary Tomczyk. "Dies ist wichtig, weil eine Menge unserer Bürger darüber besorgt sind." Auch Ministerpräsidentin Ewa Kopacz betonte, es handele sich um eine einmalige Aufnahme - zudem werde "alles von der EU bezahlt".

Auch in Rumänien, bisher bereit, rund 1700 Flüchtlinge aufzunehmen, unterstrich Präsidentenberater Leonard Orban, Bukarest bekomme von der EU für jeden Flüchtling 6000 Euro. So viel zahlt die EU-Kommission Mitgliedsländern aus dem EU-Haushalt für jeden Flüchtling. Dass Regierende in Zentral- und Osteuropa Geld beim Thema Flüchtlinge prominent erwähnen, liegt an der Rücksicht aufs heimische, oft fremdenfeindliche und selbst nicht wohlhabende Publikum. Es sorgt in Brüssel oder Berlin gleichwohl für Ärger und vor dem Flüchtlings-Sondergipfel der EU-Regierungschefs für wachsenden politischen Druck auf Warschau, Prag oder Bukarest, mehr Flüchtlinge und verbindliche Quoten zu akzeptieren. Schließlich ist die Zahl aufzunehmender Flüchtlinge vergleichsweise gering. Und ohnehin gehört die Region zu den größten finanziellen Nutznießern der EU.

Schon die baltischen Staaten, die jeweils maximal einige Hundert Flüchtlinge aufnehmen sollen, bekommen aus Brüssel jährlich Hunderte Millionen Euro netto, belegt eine Datenbank der EU-Kommission. 2013 zahlte etwa Estland 190 Millionen Euro an die EU - doch bekam es 973 Millionen zurück. Für Lettland betrug das Plus gut 800 Millionen Euro, für Litauen 1,5 Milliarden Euro. Auch Tschechien und Ungarn gehören zu den Gewinnern. Prag nahm 2013 knapp 3,4 Milliarden Euro mehr ein, als es an Brüssel zahlte. Für Budapest betrug das Plus knapp fünf Milliarden, für Rumänien mehr als vier Milliarden Euro.

Mit Abstand am stärksten profitiert Polen. 2013 zahlte Warschau 3,8 Milliarden Euro an Brüssel - und erhielt 16,2 Milliarden Euro zurück. Das ist in der aktuellen Haushaltsperiode der EU ähnlich. Von 2014 bis 2020 überweist Warschau 30 Milliarden Euro - doch bekommt aus Brüssel knapp 106 Milliarden Euro zurück. Polen ist "von allen Mitgliedsstaaten der größte Empfänger von EU-Geldern", freute sich das polnische Finanzministerium.

Auch die Opposition schätzt die Milliarden der EU - etwa Beata Szydlo, Spitzenkandidatin der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und angesichts deutlichen Vorsprungs in allen Umfragen nach der nächsten Wahl Ende Oktober wahrscheinlich Polens nächste Regierungschefin. Als Szydlo kürzlich Polens Unternehmer umwarb, betonte sie in seltener Offenheit, das nächste Jahrzehnt sei besonders wichtig, da es wohl das letzte Mal sei, dass Polen so viel Geld von der EU bekomme.

Polen sagt, es habe Zehntausende Ukrainer aufgenommen. Doch die sind meist Studenten

Für gewöhnlich lassen sowohl die PiS wie die Regierung Kopacz Brüsseler Milliarden ebenso unerwähnt wie Verpflichtungen gegenüber der EU. Etwa Artikel 78 des Vertrages über das Funktionieren der EU, der die Verteilung von Flüchtlingen nahelegt. Stattdessen lehnen die Regierung Kopacz und der von der PiS gestellte Präsident Andrzej Duda die Aufnahme von Flüchtlingen mit dem Argument ab, Polen habe Zehntausende Ukrainer aufgenommen. Dabei sind Polens Ukrainer meist Studenten oder mit einem Arbeitsvisum im Land. 2014 beantragten gut 2300 Ukrainer ihre Anerkennung als Flüchtling - sämtlich erfolglos. 2015 wurden zwei Ukrainer als Flüchtlinge anerkannt.

Die Diskrepanz zwischen dem EU-Milliardensegen auf der einen und geringer Solidarität in der Flüchtlingskrise andererseits ließ sowohl Innenminister Thomas de Maizière wie SPD-Chef Sigmar Gabriel in der vergangenen Woche mit der Kürzung von EU-Fördergeldern für unwillige Aufnahmeländer drohen. Offiziell distanziert sich Bundeskanzlerin Angela Merkel von solchem Druck, geben sich die Regierungen in Osteuropa empört. Solche Drohungen seien "Erpressung", sagte Litauens Premier Algirdas Butkevičius.

Tschechiens Regierung nannte es eine leere Drohung ohne rechtliche Basis. Doch "warum sollten deutsche und andere westliche Steuerzahler Tschechen Hunderte Milliarden Kronen geben, wenn sie es an grundlegender Solidarität mit ihren Nachbarn fehlen lassen?", fragte die Prager Zeitung Lidove Noviny. Auch aus Warschau kommen mittlerweile Plädoyers gegen "nationalen Egoismus": "Solidarität mit der EU ist für uns wichtiger als umgekehrt - ob es um Abstimmungen zur Konfrontation mit Russland geht, um Solidarität in Sachen Energieversorgung, Militär - oder der Aufteilung des EU-Geldes", schreibt Polens führendes Wochenmagazin Polityka.

Tatsächlich ist die Kürzung von EU-Geldern nicht vom Tisch. "Es ist logisch, dass man nicht vergisst, wenn einen Freunde in der Not im Stich lassen und ihnen selbst beim nächsten Mal ebenfalls weniger hilft", sagte der Süddeutschen Zeitung ein europäischer Spitzendiplomat. "Darüber wird auch beim Sondergipfel gesprochen, und sonst bei den nächsten Haushaltsberatungen der EU."

© SZ vom 22.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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