Polen:Knöllchen des Anstoßes

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Eigentlich geht es nur um einen Strafzettel. Doch mit seiner Klage vor dem Verfassungsgericht gerät ein polnischer Transportunternehmer mitten hinein in die Justizkrise des Landes.

Von Florian Hassel, Tychy

Wer gegen Polens Regierung vor Gericht zieht, nimmt es mit mächtigen Gegnern auf - darunter Präsident Andrzej Duda (links) und Julia Przyłębska (rechts), Präsidentin des Verfassungsgerichts. (Foto: Pawel Supernak/dpa)

Manchmal kann ein Knöllchen die Rechtsprechung ins Wanken bringen. Sieben Jahre ist es her, dass der Hyundai Atos von Marek Jarocki im südpolnischen Kattowitz im Halteverbot stand. Den Strafzettel von umgerechnet 100 Euro wollte Jarocki nicht bezahlen: "Ich war an diesem Tag gar nicht in Kattowitz - und mein Alibi ist unanfechtbar", sagt Jarocki, ein 45 Jahre alter Transportunternehmer aus dem Städtchen Tychy südlich von Kattowitz. Er gab zu, ein Familienmitglied habe den Wagen genutzt - wer, sage er nicht. "Nur in totalitären Staaten muss man gegen ein enges Familienmitglied aussagen."

Doch bei Verkehrsdelikten haftet in Polen - ähnlich wie in vielen europäischen Ländern - letztendlich der Halter. So wurde Jarocki eine Strafe von gut 500 Euro auferlegt. Er zog vor das Verfassungsgericht. Doch unter den Richtern, die seine Klage ablehnten, waren "Doppelgänger": Richter, die die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Pis) nach ihrem Wahlsieg im Herbst 2015 bestimmt hatte - obwohl das Vorgängerparlament bereits drei Juristen in diese Ämter gewählt hatte. Das Verfassungsgericht urteilte Ende 2015, die Wahl der drei alten Verfassungsrichter sei rechtens. Doch Polens Präsident, ebenfalls von der Pis, weigerte sich, sie zu vereidigen - und schwor stattdessen die drei unrechtmäßig gewählten Doppelgänger ein. 2016 bestimmte die Pis weitere Verfassungsrichter und setzte parteitreue Juristen an die Spitze des Gerichts. Es urteilt seither im Sinne der Regierung.

Marek Jarocki will Entschädigung - weil das Gericht unrechtmäßig besetzt sei, mit "Doppelgängern"

Ein unrechtmäßig ernannter Richter ist keine Kleinigkeit. In Deutschland muss ein Prozess schon wiederholt werden, wenn einer von mehreren Richtern kurz einschläft, das Gericht also nicht vorschriftsmäßig besetzt ist. Die Teilnahme eines Doppelgängers an einem Verfassungsgerichtsverfahren mache den ganzen Prozess ungültig, urteilte Juraprofessor Tadeusz Ereciński, bis 2016 Präsident der Zivilkammer des Obersten Gerichts in Polen, im März. Man könne dann nicht von einem Gerichtsentscheid sprechen. "Vielleicht existiert die Entscheidung faktisch - aber nicht im juristischen Sinne." Doch juristische Meinungen sind eine Sache - Urteile eine andere.

Zurück zum Knöllchen. Transportunternehmer Jarocki ist nicht nur Herr über 60 Lkws, die er durch Europa kommandiert. Er interessiert sich auch leidenschaftlich für das Recht. Seine Großmutter erzählte ihm einst, dass in Preußen ein Bürger selbst gegen den König recht bekommen konnte. "Das habe ich mir auch bei uns gewünscht", sagt Jarocki. Und so zieht er, sobald er glaubt, Unrecht festzustellen, vor das Verfassungsgericht. Mehrmals gaben ihm die Richter schon recht: Etwa, dass es verfassungswidrig sei, wenn ein einbestellter Zeuge vom Gericht nur eine Pauschale erstattet bekomme, nicht aber die ihm tatsächlich entstanden Kosten.

Als nun die Doppelgänger-Verfassungsrichter Jarockis Strafzettelbeschwerde ablehnten, klagte er vor einem Warschauer Gericht auf Entschädigung - seine Begründung: das Gericht sei unrechtmäßig besetzt. Die Klage landete bei Wojciech Łączewski. Der Richter hat schon mehrmals Urteile gefällt, die der Pis missfielen, etwa im März 2015: Da verurteilte er Mariusz Kaminski - heute Geheimdienstkoordinator und einer der mächtigsten Männer Polens - wegen Amtsmissbrauchs und illegaler Überwachung politischer Gegner in erster Instanz zu drei Jahren Haft. Kaminski wurde später von seinem Parteifreund begnadigt, Präsident Andrzej Duda.

Vor Beginn des Jarocki-Verfahrens im Juni 2017 prüfte Richter Łączewski die Formalien. Die Vollmacht des Vertreters des Verfassungsgerichts war unterschrieben von Julia Przyłębska, seit Ende 2016 Präsidentin des Gerichts. Przyłębska, zuvor eine Provinzrichterin mit mäßigem Ruf, hat seit ihrer Beförderung vor allem eines bewiesen: Loyalität zur Parteilinie der Pis. Als Polen im Juli von Protesten gegen mehrere offen verfassungswidrige Gesetze erschüttert wurde, erklärte Przyłębska, die Gesetze seien alle verfassungskonform. Tags darauf legte Präsident Duda gegen zwei der Gesetze sein Veto ein - wegen Verfassungswidrigkeit. Przyłębska wurde ohne das vorgeschriebene Votum der Mehrheit ihrer Richterkollegen zur Präsidentin des Verfassungsgerichts ernannt. Und so erklärte Richter Łączewski in der Jarocki-Strafzettelklage, er lasse den Vertreter Przyłębskas erst dann bei Gericht zu, wenn feststehe, dass Przyłębska rechtmäßig Gerichtspräsidentin sei.

Darüber will Polens Oberstes Gericht am 12. September entscheiden. Lautet der Richterspruch "nein", könnte jede Entscheidung Przyłębskas für ungültig erklärt werden. Hebt der Richter auch noch die Ablehnung von Jarockis Strafzettelklage auf, bröckelt die Legitimität des Verfassungsgerichts. Schon jetzt würden viele Richter Streitfälle nicht mehr dem Verfassungsgericht vorlegen, weil sie an dessen Legitimität zweifelten, sagt Waldemar Żurek, Sprecher des Landesrichterrates.

Die rechtliche Unsicherheit wird sich freilich nicht auf Polen beschränken. Wer das Verfassungsgericht und seine Urteile anzweifelt, für den "mag es keine Alternative geben, als vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu klagen", sagt Małgorzata Gersdorf, Präsidentin des Obersten Gerichts in Polen. In Straßburg könnten solche Klagen Erfolg haben. Schließlich hat etwa die Venedig-Kommission des Europarates festgestellt, dass etliche Vorgänge um das Verfassungsgericht polnischem und internationalem Recht widersprechen. Das Urteil der Verfassungsexperten wird zwar nicht von der Warschauer Regierung akzeptiert, auf internationalem Parkett aber umso mehr.

Und es geht nicht nur um Polens Verfassungsrichter. Am 20. Juni trat ein Gesetz in Kraft, das Richteranwärter dem Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro unterstellt. Im September treten die ersten 350 von Ziobro bestimmten Richteranwärter ihr Amt an polnischen Bezirksgerichten an. Doch ihre Berufung und ihre Urteile könnten angefochten werden: 2007 urteilte das damals noch unabhängige Verfassungsgericht, es sei verfassungswidrig, dass dem Minister unterstehende Richteranwärter Recht sprächen. Auch die Präsidenten und ihre Stellvertreter an allen allgemeinen Gerichten Polens wurden dem Justizminister unterstellt. Ein entsprechendes Gesetz unterschrieb Präsident Andrzej Duda am 24. Juli. Auch dieses Gesetz widerspricht dem Verfassungsgebot der richterlichen Unabhängigkeit. Die EU-Kommission leitete deshalb ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ein.

Zahlreich sind die Möglichkeiten, Kritikern die Steuerfahndung auf den Hals zu schicken

Doch die Verfahren in Straßburg und Luxemburg dauern Jahre. Und in der Zwischenzeit? Der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Marek Safjan, heute Richter am Europäischen Gerichtshof, befand, wenn das Verfassungsgericht seiner Aufgabe nicht nachkomme, müssten eben die Richter an allen anderen Gerichten Polens "das Recht bewahren, darunter auch das höchste, in der Verfassung festgeschriebene". Das ließ sich eine Gruppe von Richtern in Breslau nicht zweimal sagen. Dort hatte Polens Anti-Korruptions-Geheimdienst CBA illegal Beweise gegen zwei wegen Erpressung verurteilte Männer gesammelt - aber seit einer Änderung der Strafprozessordnung durch Justizminister Ziobro müssen polnische Richter bei der Urteilsfindung auch illegal gesammelte Beweise berücksichtigen. Mehrere Richter am Breslauer Berufungsgericht urteilten Ende April, dies widerspreche sowohl der polnischen Verfassung wie der Europäischen Menschenrechtskonvention. Ziobros Stellvertreter Marcin Warchol erklärte daraufhin, Richter dürften sich nicht direkt auf die Verfassung berufen. Und warnte: Für die Breslauer Richter stelle sich "nicht nur die Frage nach disziplinarischer, sondern auch nach strafrechtlicher Verantwortung".

Doch auch Waldemar Żurek, Sprecher des Landesrichterrates und Richter am Berufungsgericht in Krakau, sagt: "Ich werde als Richter genau prüfen, ob ein von dieser Regierung verabschiedetes Gesetz mit der Verfassung übereinstimmt oder nicht. Im Zweifelsfall zählt die Verfassung." Allerdings bezweifelt Żurek, dass ihm solch freies Urteilen lange erlaubt sein wird. "Nach der Sommerpause wird die Regierung ein weiteres Gesetz beschließen, das die Gerichte unter neuem Namen umorganisiert. Das wird der Vorwand, um unbequeme Richter loszuwerden. Solche wie mich."

Die meisten polnischen Bürger, meint Żurek, überlegen sich inzwischen sehr gut, ob sie gegen die Regierung klagen sollen; zahlreich sind die Möglichkeiten, unliebsamen Kritikern die Steuerfahndung oder den Geheimdienst auf den Hals zu schicken - oder Firmen öffentliche Aufträge zu streichen. Transportunternehmer Jarocki glaubt allerdings, dass er nicht allzu leicht unter Druck gesetzt werden kann. "Die Aufträge für meine Lkw-Transporte kommen nicht aus Polen." Schon hat Jarocki die zweite Klage bei Richter Łączewski eingereicht, die eine Entscheidung des Verfassungsgerichts infrage stellt. Doch kurz vor dem Verhandlungstermin wurde Łączewski das Verfahren entzogen und an ein anderes Gericht übertragen.

© SZ vom 29.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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