Polen:Kehrtwende beim Abtreibungsverbot

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Tausende Frauen protestierten: Regierungsmehrheit stimmt gegen ihr eigenes Gesetz.

Von Florian Hassel, Warschau

Es waren denkwürdige Szenen: Polens Parlament lehnt mit überwältigender Mehrheit ein Gesetz ab, das es zuvor in erster Lesung deutlich angenommen hatte. Das Gesetz hätte Abtreibungen verboten und an ihnen Beteiligte mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bedroht. Am Donnerstag aber stimmten 352 von 432 anwesenden Parlamentariern für die Ablehnung des Gesetzes - darunter 186 Abgeordnete der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (Pis). Die Kehrtwende bedeutet die bisher größte Schlappe für Pis-Chef Jarosław Kaczyński.

Der hatte die Wahl im Herbst 2015 vor allem auch mit Unterstützung ultrakonservativer Katholiken gewonnen. Die sammelten mit der Initiative "Stoppt Abtreibung!" 460 000 Unterschriften für eine Verschärfung eines ohnehin restriktiven Gesetzes, das Abtreibung schon jetzt nur bei gesundheitlicher Gefährdung der Mutter, im Fall schwerer Fehlbildung oder nach einer Vergewaltigung erlaubt. Viele Ärzte verweigern Beratung und Abtreibung selbst in solchen Fällen. Die Folge: In Polen gibt es nur rund 1000 legale Abtreibungen jährlich - aber bis zu 100 000 illegale. Und Zehntausende Polinnen fahren jedes Jahr zu diesem Zweck nach Deutschland, Österreich oder Tschechien.

Tausende Frauen versammelten sich am Montag vor der Zentrale von Polens Regierungspartei PiS - vier Tage später kassierte die ihr Gesetz wieder ein. (Foto: Kacper Pempel/Reuters)

So radikal wie die konservativen Katholiken ist selbst Pis-Chef Kaczyński nicht eingestellt, deshalb hatte er sich eine schöne Strategie überlegt: das restriktive Gesetz in erster Lesung annehmen, aber dann leise in den Parlamentsausschüssen beerdigen - ein auch im polnischen Parlament bewährtes Verfahren. Doch die Pis hatte die Rechnung ohne Polens Frauen gemacht. Die hatten zunächst nur zu einigen Tausend gegen das Projekt eines kompletten Abtreibungsverbotes protestiert, doch sie wurden mehr. Am vergangenen Montag streikten den Organisatorinnen zufolge 116 000 Frauen in 90 Städten. In Warschau protestierten 20 000 vor dem Präsidentenpalast und der Pis-Zentrale.

Kaczyński steuerte um: Am Donnerstagmorgen forderte er die Pis-Abgeordneten in einer Krisensitzung auf, statt für nun gegen das Abtreibungsverbot zu stimmen. Es habe sich um "ein gigantisches Missverständnis" gehandelt, sagte Kaczyński, noch vor Mittag stimmte das Parlament mit den meisten Stimmen der Regierung und fast allen der Opposition gegen das Abtreibungsverbot.

Der Kampf um das Verbot ist damit allerdings kaum beendet. Vertreter der ultrakonservativen Vereinigung Ordo Iuris erklärten, sie würden bald die nächste Initiative für ein komplettes Abtreibungsverbot starten. Auch die protestierenden Frauen wollen nicht haltmachen: Die überparteiliche Bürgerinitiative "Initiative Polen" will in Polen und anderen europäischen Ländern eine Million Unterschriften sammeln, um die EU-Kommission im Rahmen einer "Europäischen Bürgerinitiative" zu einem Gesetzentwurf für ein liberales Abtreibungsrecht auf europäischer Ebene aufzufordern.

© SZ vom 07.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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