NSU-Prozess:Tat und Reife

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Wie reif war der Angeklagte Carsten S., als er mit knapp 20 Jahren die Pistole an die Mörder vom NSU übergeben hat? Das ist wichtig für das Strafmaß. Der psychiatrischer Gutachter Norbert Leygraf wurde nun dazu erneut gehört.

Von Annette Ramelsberger, München

Die beiden Männer stehen wegen des gleichen Vorwurfs vor Gericht: Beihilfe zum Mord. Und sie haben laut Anklage fast das gleiche getan: Der eine, Ralf Wohlleben, hat die Mordwaffe für die NSU-Terrorzelle organisiert, der andere, Carsten S., hat sie dann übergeben. Der Unterschied: Der eine sitzt seit über vier Jahren in Haft, der andere kam nach ein paar Monaten auf Bewährung frei. Der eine bemüht sich immer wieder um Entlassung aus der Haft, der andere ist im Zeugenschutzprogramm des Bundeskriminalamtes und auf freiem Fuß. Der eine ist ein überzeugter Nationalist, der andere hat sich von der rechten Szene abgewandt. Und: Dem einen, Wohlleben, drohen bis zu 15 Jahre Haft, der andere, Carsten S., könnte, wenn er Glück hat, mit einer Bewährungsstrafe davon kommen.

Das kommt nicht nur daher, dass Carsten S. als einziger der fünf Angeklagten im NSU-Prozess umfänglich ausgesagt hat und sich über Tage hinweg fragen ließ. Die guten Aussichten für Carsten S. rühren auch daher, dass ein Psychiater ihn als "jugendlich" eingestuft hat, für den Zeitraum, als er im Jahr 2000 mit knapp 20 Jahren die Ceska-Pistole an die Mörder vom NSU übergeben hat. Am Mittwoch musste der psychiatrische Sachverständige Norbert Leygraf von der Uni Essen noch einmal über sein Gutachten sprechen. Und vor allem die Verteidiger von Ralf Wohlleben stellten ihm Fragen - denn Carsten S. hat durch seine Aussagen vor allem Wohlleben belastet: Der habe ihn beauftragt, die Waffe zu besorgen und ihm auch das Geld dafür gegeben. Wohlleben dagegen erklärt, er habe kein Geld gehabt, es auch nicht an Carsten S. gegeben, und der müsse direkt von den NSU-Leuten den Auftrag bekommen haben. Es geht also auch um die Glaubwürdigkeit von Carsten S. Und um seine Reife. Die Verteidiger von Wohlleben wollten herausarbeiten, dass Carsten S. doch schon viel reifer war als Leygraf das sieht. Er habe einen Bus für eine Demo organisiert, sei im Bundesvorstand der Jungen Nationaldemokraten gesessen. Und sie wollen zeigen, dass deshalb die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass Carsten S. doch auf eigene Faust und nicht auf Wunsch von Wohlleben tätig war. Leygraf erklärte allerdings, dass die innere Reife und die Fähigkeit, im Alltag zu bestehen, nicht zusammenhängen. "Seine innere Persönlichkeitsentwicklung kann verzögert sein und man kann trotzdem einen Bus anmieten", sagte Leygraf. Allerdings beschrieb auch er, wie sehr sich Carsten S. immer in Beschreibungen der Freizeit in der rechten Szene verlor und wenig über die Ideologie sagte. Alles hing immer damit zusammen, wie er sich fühlte, wen er attraktiv fand. Alles verbindet er nur mit seinem Comingout als Homosexueller. Dass er die Waffe übergeben hatte, das spielte danach zehn Jahre lang keine Rolle mehr für ihn - aber an die Angst, die er spürte, als er in Beate Zschäpes Wohnung einbrach, um Unterlagen für sie rauszuholen, an die dachte er nachts immer wieder.

Die Verteidigung von Wohlleben hat mittlerweile erneut Haftbeschwerde eingelegt - und nimmt dabei explizit Bezug auf Carsten S. Ralf Wohlleben habe eine Familie und zwei kleine Kinder und sitze noch immer in Haft, Carsten S. habe keine solche Bindung und sei seit langem auf freien Fuß. Die Verteidiger von Wohlleben sprechen von "Isolationshaft" für ihren Mandanten und führten an, dass eine solche Untersuchungshaft gerade von einem Senat des Oberlandesgerichts München im Verhältnis zwei zu eins angerechnet worden sei - ihr Mandant also umgehend freizulassen sei. Darüber ist noch nicht entschieden. Richter Manfred Götzl aber korrigierte sofort: Er habe beim betreffenden Senat nachgefragt, von einer Anrechnung zwei zu eins wisse man da nichts.

© SZ vom 09.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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