Niedriglohn:Frieden für sieben Cent

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Ein typischer Niedriglohnjob: In Hotels wird Zimmerpersonal oft nur Mindestlohn gezahlt. (Foto: Robert Haas)

Der neue Mindestlohn fällt höher aus, als er müsste. Arbeitgeber und Gewerkschaften haben sich erstaunlich reibungslos auf 8,84 Euro die Stunde geeinigt.

Von Ruth Eisenreich und Thomas Öchsner

Das Auto, das ist die große Veränderung. Im Oktober hat Tina Schubert ihren zwölf Jahre alten VW Fox, mit dem sie zuletzt schon Stammgast in der Werkstatt war, gegen einen neuen Wagen eingetauscht. Schubert, 25, ist gelernte Restaurantfachfrau; sie verkauft in einer Traditionsbäckerei in Aue im sächsischen Erzgebirge Semmeln, Mohnzöpfe und Rosinenbrötchen. Seit Anfang 2015 bekommt sie dafür den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde. Von den etwa 6,50 Euro, die sie davor verdiente, hätte sie sich die Versicherung für den Neuwagen nicht leisten können, sagt sie.

Neben Tina Schubert dürften nach Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums bis zu vier Millionen Menschen in Deutschland von der Erhöhung der gesetzlichen Lohnuntergrenze auf 8,84 Euro profitieren. Auf diesen Betrag hat sich die Mindestlohnkommission am Dienstag geeinigt. Der Rest ist Formsache: Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) wird den Vorschlag per Verordnung umsetzen.

Ob und wie der Mindestlohn von 2017 an steigt, sollte von Anfang an kein Streitthema zwischen den Parteien werden. Da waren sich Union und SPD einig. Als Deutschland 2015 die gesetzliche Lohnuntergrenze einführte, wurde deshalb eine Kommission geschaffen, die über die Anpassung des Mindestlohns entscheiden soll. In dem Gremium sitzen je drei Vertreter der Gewerkschaften und der Arbeitgeber. Hinzu kommen zwei wissenschaftliche Mitglieder, die aber kein Stimmrecht haben.

Der entscheidende Kopf in der Runde ist deshalb Jan Zilius. Der 70 Jahre alte Jurist wird von beiden Seiten akzeptiert und kennt beide Seiten: Er hat bei der Gewerkschaft IG BCE als Jurist gearbeitet und wechselte später als Arbeitsdirektor zum Energiekonzern RWE. Kommt es in der Kommission zu einem Patt und bleiben seine Vermittlungsversuche ohne Erfolg, so muss Zilius entscheiden.

Das war bei den 8,84 Euro aber offenkundig nicht nötig. Der Beschluss sei einstimmig gefallen, sagt Zilius in der Bundespressekonferenz. Denkt man an die öffentlichen Schaukämpfe der vergangenen Wochen, hatte es danach zunächst gar nicht ausgesehen.

Der maßgebliche Index hätte nur einen Anstieg auf 8,77 Euro zugelassen

Klar war von Anfang an, dass die Kommission keine Tarifverhandlungen vorwegnehmen soll. Deshalb haben Union und SPD den Spielraum der Kommission eng begrenzt. Sie muss sich bei der Frage, um wie viel der Mindestlohn steigen soll, "nachlaufend" am Tarifindex des Statistischen Bundesamtes orientieren. Dieser Indikator gibt an, wie sich die tariflichen Stundenlöhne entwickelt haben. Maßgebend für die jetzt beschlossene Erhöhung sind die Tarifabschlüsse der vergangenen eineinhalb Jahre. Daran erinnert nun auch Zilius.

Alles weitere hätte selbst für Nicht-Mathematiker eigentlich ein Kinderspiel sein müssen. Doch dem war nicht so.

Für die Statistiker war die Sache noch einfach zu berechnen: Der Tarifindex ist im fraglichen Zeitraum um 3,2 Prozent gestiegen, das hätte eine Erhöhung des Mindestlohns auf 8,77 Euro ergeben. Die Gewerkschaften forderten aber, die jüngsten Tarifabschlüsse in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst ebenfalls in den Index einfließen zu lassen. Die wurden zwar schon vor dem Stichtag, dem 30. Juni, vereinbart, ausgezahlt wird das Geld jedoch erst später. Der Tarifindex hätte sich dann um 4,4 Prozent erhöht, der Mindestlohn wäre so auf 8,87 Euro gestiegen.

Die Kommission fand nun eine Lösung, die ziemlich logisch klingt: Der Abschluss im öffentlichen Dienst wird berücksichtigt. Dort gilt die Erhöhung seit März. Sie wurde nur deshalb noch nicht ausgezahlt, weil die öffentlichen Verwaltungen ihre Gehaltsbuchhaltung erst umstellen müssen. Bei den Metallern dagegen greift die Tariferhöhung von 2,8 Prozent erst zum 1. Juli. Folglich bleibt dieser Abschluss außen vor. Für die nächste Anpassung in zwei Jahren gilt aber: Ausgangsbasis sind die 8,77 Euro, damit der Abschluss im öffentlichen Dienst nicht doppelt gezählt wird.

Die Grenze werde wohl auch 2020 nicht über zehn Euro liegen, sagt der Arbeitgeber-Vertreter

Am Ende kam so der Aufschlag um 34 Cent auf 8,84 Euro heraus, also sieben Cent mehr als die 8,77 Euro. Das sind laut DGB für einen Arbeitnehmer mit einer 37,5-Stunden-Woche immerhin 55 Euro im Monat brutto mehr. Zilius hält diese Erhöhung für "angemessen". DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell, selbst Mitglied der Kommission, sagt: "Aus unserer Sicht ist das Glas etwas voller als halb leer." Auch Kommissionsmitglied Reinhard Göhner, Hauptgeschäftsführer bei den Arbeitgeberverbänden, ist nicht unzufrieden: Wenn es so weitergehe, werde der Mindestlohn auch 2020 nicht über zehn Euro liegen, sagt er.

Die 8,84 Euro werden nun von 2017 an für zwei Jahre gelten, gültig bis zur nächsten Erhöhung 2019. Auch dann muss die Kommission wieder auf den Tarifindex schauen. Davon abweichen kann die Runde nur mit einer Zweidrittelmehrheit - und "wenn besondere, gravierende Umstände auf Grund der Konjunktur- und Arbeitsmarktentwicklung vorliegen".

Bislang haben von den 8,50 Euro besonders ungelernte Beschäftigte profitiert, vor allem in Ostdeutschland. Das gilt etwa für Bedienungen, Zimmermädchen, Mitarbeiter in Callcentern oder Bäckereiverkäuferinnen wie Tina Schubert. Die Kommission spricht von "deutlichen Verdienststeigerungen in Branchen und Personengruppen, deren Stundenlöhne bislang besonders häufig unterhalb von 8,50 Euro lagen". Die Frage, welche Folgen der Mindestlohn noch hat, ist in der Kommission umstritten. Hier hält sie sich mit weiteren Aussagen zurück, dafür reicht auch das Datenmaterial noch nicht aus.

Tina Schubert hat die 8,50 Euro außer beim neuen Auto nur wenig gespürt: Einen Teil fraßen die Steuern auf, und viele Waren seien durch den Mindestlohn teurer geworden, "die Semmeln bei uns ja auch". Sie komme aber mit dem Geld "ganz gut hin". Einmal pro Jahr geht sie für eine knappe Woche Skifahren. Ein Sommerurlaub sei aber "wirklich nicht drin" und viel Sparen auch nicht. Sie hofft, dass sie auch etwas davon hat, wenn es ein paar Cent mehr gibt: "Klar wäre das schön, ein bisschen mehr Geld übrig zu haben", sagt sie.

© SZ vom 29.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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