Niederlande:Türkischer Konflikt an der Nordsee

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Der Kampf Ankaras gegen den Prediger Fethullah Gülen wird inzwischen auch in den Niederlanden ausgetragen. Nicht nur unter Politikern, sondern auch auf dem Rücken von Schulkindern und Verbänden und Vereinen.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Zwei lange Arme reichen dieser Tage aus weiter Ferne bis in die Niederlande. Der eine gehört dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der andere seinem im US-Exil wohnenden Widersacher Fethullah Gülen. Der Konflikt der beiden findet eine Fortsetzung in der niederländischen Innenpolitik, wo er eine Dimension erreicht hat, die in Den Haag große Besorgnis auslöst. Die Anhänger beider Lager - immerhin niederländische Bürger - bedrohen einander nicht nur. Inzwischen wird der Streit auch auf dem Rücken Hunderter Schulkinder ausgetragen. Die niederländische Regierung muss mehr oder weniger hilflos erdulden, wie Ankara ohne Skrupel die Innenpolitik an der Nordseeküste mitbestimmt.

Die Spannungen zwischen türkischstämmigen Niederländern haben in den vergangenen Wochen stark zugenommen; vor allem Anhänger Gülens, den Erdoğan als Drahtzieher des jüngsten Putschversuchs ansieht, werden bedroht. Der Regierung in Den Haag blieb bisher nur der Rat, Einschüchterungsversuche der Polizei zu melden. Dann wurde bekannt, dass der türkische Generalkonsul in Rotterdam einigen Bürgermeistern im Land brieflich Anweisungen erteilt hat, wie sie mit Demonstrationen von Gülen-Anhängern umgehen sollten. Ihm hätten sich die Augenbrauen gewellt, erzählte das Rotterdamer Stadtoberhaupt Ahmed Aboutaleb. "Wir entscheiden lieber selbst, wie wir mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit umgehen." Mehrere niederländische Minister protestierten laut. "Wir akzeptieren nicht, dass der Konflikt hierher exportiert wird", sagte Vizepremier Lodewijk Asscher.

Außenminister Çavuşoğlu wirft Amsterdam vor, mit "zweierlei Maß" zu messen

Sein Chef Mark Rutte telefonierte mit Erdoğan; Außenminister Bert Koenders machte sich auf nach Ankara, im Gepäck die vermeintlich klare Botschaft: "keine Einmischung". Just während seines Aufenthalts am Bosporus jedoch veröffentlichte die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu eine Liste mit "Feinden des türkischen Staates", die in den Niederlanden aktiv seien, mit den Namen von Dutzenden Personen und Organisationen, die der Gülen-Bewegung nahestehen sollen. Unter ihnen sind Jugend-, Frauen- und Unternehmerverbände, Wohlfahrtsvereine sowie neun Schulen.

Ein eindeutiger Affront, in Den Haag kochte Wut hoch. Wieder wurde offiziell protestiert. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavușoğlu aber warf den Niederlanden "zweierlei Maß" vor. Schließlich erteilten sie Ankara auch ständig Lektionen über Rechtsstaatlichkeit.

Zu diesem Zeitpunkt hatten türkisch-niederländische Eltern andere Eltern schon über Whatsapp aufgefordert, ihre Kinder von vermeintlichen Gülen-Schulen zu nehmen. In einer Schule in Zaandam fehlten nach den Ferien 151 Kinder, ein Drittel aller Schüler, auch neun Lehrer blieben aus Angst zu Hause. Die Schule verklagte vier Elternpaare, die vor einer "terroristischen Vereinigung" an der Schule gewarnt und zum Boykott aufgerufen hatten; vor Gericht wurden sie zu einer friedlichen Einigung aufgefordert.

In der niederländischen Politik hat der innertürkische Konflikt noch auf andere Weise Spuren hinterlassen: in Gestalt der Einwandererpartei Denk, gegründet von zwei früher sozialdemokratischen türkischstämmigen Abgeordneten. Die beiden stehen vorbehaltlos hinter Erdoğan und greifen gern zu ähnlich populistischen Mitteln wie ihre Gegner auf der islamfeindlichen Rechten.

Auch bei den Sozialdemokratien, die traditionell die Einwanderer vertreten, sitzen türkischstämmige Erdoğan-Fans, die viele in der Parteiführung gerne loswürden. Anderen Parteien geht es ähnlich. Die betroffenen Politiker stehen vor einem Dilemma: Äußern sie sich Erdoğan-kritisch, bekommen sie Ärger mit ihren Wählern. Rechtfertigen sie das Handeln der türkischen Regierung, verstoßen sie klar gegen Programm und Werte ihrer Parteien. Auch in Deutschland und anderen Ländern wird dieser Spagat türkischstämmiger Politiker zum Problem.

© SZ vom 07.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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