Niederlande:Ratlos und verdrossen

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Spielt auf Zeit: Premierminister Mark Rutte. (Foto: dpa)

Die Folgen des Anti-EU-Referendums quälen die niederländische Regierung. Sie sucht seit mehr als einer Woche nach einer passenden Antwort.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Mehr als eine Woche nach dem Nein der Niederländer zum Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine sucht die Politik in Den Haag noch immer nach einer passablen Antwort auf die Entscheidung der Bürger. Die Regierungskoalition aus Rechtsliberalen und Sozialdemokraten, die das Abkommen befürwortet, bemüht sich, den Schaden zu minimieren und vor allem eine größere Kabinettskrise zu verhindern. Weil sich kein befriedigender Ausweg abzeichnet, überwiegen Ratlosigkeit und Verdruss in ihren Reihen. In einem konsultativen Referendum hatten sich am 6. April 61 Prozent gegen das Abkommen ausgesprochen, das eine Annäherung der Ukraine an Europa bewirken soll. Die Hürde der Mindestbeteiligung wurde mit 32 Prozent knapp überwunden.

Mit Vehemenz fordern die Oppositionsparteien nun, die Regierung möge konsequent sein, das Volk erhören und das Gesetz zur Ratifizierung des Abkommens sofort widerrufen. Das Referendum war zwar nicht bindend, doch hatte eine Mehrheit im Parlament zuvor versprochen, man wolle das Ergebnis berücksichtigen. Und auch der liberale Premierminister Mark Rutte sagte nach der Abstimmung, dass sein Land das Abkommen jetzt nicht "einfach so" ratifizieren könne.

Die Opposition murrt, dass die Regierung den Wählerwillen ignoriere

Rutte hat sich aber dafür entschieden, auf Zeit zu spielen. Man werde erst nach dem EU-Referendum in Großbritannien am 23. Juni beschließen, was zu tun sei, sagte er im Parlament. Der Ministerpräsident, der möglichst viel von dem Abkommen retten möchte, verwies auf europäische Sachzwänge. Er spüre einen Unwillen in Brüssel, über das niederländische Problem zu reden, "weil man sich Sorgen macht wegen der Folgen der Diskussion für das britische Referendum". Tatsächlich würden Konzessionen an Den Haag die Ausgangslage für den britischen Premier David Cameron noch erschweren. Wenn man aber jetzt gleich die Ratifizierung zurückziehe, sagte Rutte, drohe die Gefahr, dass das Abkommen ohne die Niederlande weitergeführt werde.

Die Opposition protestierte. "Man kann nicht Millionen Menschen an die Wahlurnen bitten, um ihnen bei einem Nein dann nicht zuzuhören", sagte der Christdemokrat Sybrand van Haersma Buma. Am Dienstag soll das Parlament über die Forderung der Opposition abstimmen. Wegen möglicher Abweichler in den eigenen Reihen könnte es für die Koalition knapp werden. Aber auch wenn die Mehrheit hinter ihm stehen sollte, sind Ruttes Verhandlungsoptionen beschränkt. Gegenüber seinen EU-Kollegen müsste er auf Änderungen in dem Abkommen dringen. So könnte klargestellt werden, dass die Ukraine keinesfalls EU-Mitglied werden solle (was ohnehin nicht geplant ist). Denkbar wäre auch, die Passagen zur politischen oder militärischen Zusammenarbeit aus dem Abkommen herauszunehmen. Dass solche Ideen in Brüssel oder in Kiew auf Zustimmung stoßen, ist unwahrscheinlich.

In den Medien wird derweil heftig über den Sinn von Referenden gestritten. Die Niederlande quälen sich seit Jahrzehnten mit der Frage, ob und wie die repräsentative Demokratie durch direkte Bürgerbeteiligung ergänzt werden könnte. Sogar eine Regierung musste deshalb schon zurücktreten. Lange Zeit ging wegen eines Patts zwischen linken und rechten Parteien nichts voran. Erst die immer stärker werdenden Rechtspopulisten haben einen Umschwung bewirkt. Das Ukraine-Referendum wurde durch ein Gesetz möglich, das im vergangenen Jahr in Kraft trat. Bald sollen bindende Referenden möglich sein, allerdings muss dafür die Verfassung geändert werden.

Politische Beobachter halten die bestehenden Regeln für verbesserungsfähig. Durch die 30-Prozent-Hürde ergab sich für das Ja-Lager ein struktureller Nachteil, weil es zwei Optionen hatte: zu Hause bleiben, um das Ergebnis vielleicht ungültig zu machen, oder doch abstimmen - und gerade dadurch eventuell dem Nein zum Sieg zu verhelfen. Gelöst werden könnte dieses Problem mit der Einführung einer Klausel, wonach mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten für die siegreiche Alternative stimmen müssen. Allerdings gibt es auch Stimmen, die jegliche Beteiligungsschwelle ablehnen. Sinnvoller sei es, die Hürden für die Lancierung eines Referendums zu erhöhen, so der Politologe Philip van Praag. Statt 300 000 sollten 600 000 Menschen unterschreiben.

© SZ vom 16.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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