Neujahrsansprache:Angela Merkel - ihre wahre Rede

Lesezeit: 4 min

"Ich wollte das nicht" - sueddeutsche.de liegt exklusiv die nicht gesendete Neujahrsansprache von Kanzlerin Dr. Angela Merkel vor.

T. Denkler

Angela Merkel, 56, bereitet sich gewissenhaft auf die Neujahrsansprache vor. Sie ist stets ein Quotenerfolg des deutschen Fernsehens. In diesem Jahr hat die Bundeskanzlerin und CDU-Chefin zwei Versionen ausgearbeitet: eine softe und offizielle, sowie eine radikal-ehrliche. sueddeutsche.de ist es gelungen, die Fassung mit der ungeschminkten Wahrheit zu bekommen. Sie wird im Folgenden dokumentiert.

Bundeskanzlerin Angela Merkel - mit Blumenbouquet, Deutschlandfahne und Blick auf den Reichstag. (Foto: Foto: Reuters)

" Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

der Jahreswechsel ist die Zeit, sich in paar Gedanken über Zukünftiges zu machen. Die Fragen die uns, die mich, die Sie umtreiben, sind oft die gleichen. Wie geht es weiter mit dem Frieden in der Welt? Wie geht es weiter mit diesem Land? Und wie geht es weiter mit dieser Regierung?

Es ist natürlich die Zeit neuer Vorsätze, so wie eigentlich jedes Jahr. Die einen wollen mit dem Rauchen aufhören, die anderen abnehmen. Ich habe mir vorgenommen, ehrlich mit Ihnen zu sein. Diese Neujahrsansprache soll der Auftakt dafür sein. Wahrheit ist das kostbarste Gut, das wir in Deutschland haben, noch vor der Umwelttechnologie, die wir in alle Welt exportieren.

Machen wir uns kurz bewusst, in welchem Glück wir eigentlich leben. Wir leben in Frieden und Sicherheit. Das ist vielen Menschen, ob in Pakistan oder im Irak, in Palästina oder Israel, nicht vergönnt. Ja, in Afghanistan sind wir verantwortlich für den Tod vieler Zivilisten. Das ist nicht zu entschuldigen. Was immer die Bundesregierung an Unterstützung geben kann, um Frieden herzustellen, das wird sie tun. Auch wenn das den Abzug aller deutscher Soldaten bedeuten würde.

Gemessen an den Sorgen der Opfer von Kriegen und Gewalt muten unsere Probleme in Deutschland vergleichsweise gering an.

Und dennoch ist das kein Grund, es nicht offen einzuräumen. Am 27. September haben Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Ihren Stimmen eine neue Regierung gewählt. Eine aus CDU, CSU und FDP. Wenn ich damals geahnt hätte, was das bedeutet, wäre ich zu anderen Schlussfolgerungen gekommen.

Das Grab der schwäbischen Hausfrau

Wir leben über unsere Verhältnisse. Das habe ich schon gesagt, als ich noch nicht Ihre Bundeskanzlerin war. Jetzt muss ich das Gegenteil von dem vertreten, was ich eigentlich will. Sie kennen ja das Bild von der schwäbischen Hausfrau, die nur das ausgibt, was sie auch einnimmt. Und jetzt bin ich im Begriff, nicht zu verhindern, der schwäbischen Hausfrau ihr Grab zu schaufeln. Das bekümmert mich.

Mein Freund Norbert Lammert hat recht, wenn er große Teile unseres Wachstumsbeschleunigungsgesetzes geißelt. Schon der Name soll Sie in die Irre führen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wachstum verspricht sich nicht einmal die FDP von dem Gesetz. Manche von Ihnen werden von unseren Steuersenkungen profitieren, ich denke an Hotelbesitzer und Erben. Aber das sage ich auch: Das geht auf Kosten nachfolgender Generationen.

Ich sage ihnen ganz ehrlich: Das war nicht das Allerbeste, was wir bisher als schwarz-gelbe Koalition abgeliefert haben. Das zeigte eben nicht jene Exzellenz, die wir beispielsweise von unseren Hochschulen oder unseren Bankern und Managern erwarten. Selbstkritisch füge ich hinzu: Wir haben uns von der FDP über den Tisch ziehen lassen. Dieser ökonomische Widersinn mit Steuersenkungen auf Pump und dieses Geschenk der reduzierten Mehrwertsteuer für Hoteliers hat zu Recht die Experten wütend gemacht.

Und: Es war gestrig, noch mehr Geld in die Familien zu geben - statt endlich mehr Geld in bessere Betreuung, bessere Bildung zu investieren. Ich sage Ihnen, ich wollte das alles nicht. Es muss Schluss sein mit der vereinigten Lobby-Politik in diesem Land. Ich bin bereit für den Kampf und will nicht immer nur den kleinsten Nenner suchen, den andere dann als Erfolg verkünden.

Schwarz-gelbes Kabinett
:Merkels Mannschaft

Schwarz-Gelb ist noch nicht jene Traumkoalition, die sich die Beteiligten erhofft hatten. Welche Minister aus Merkels Regierungsmannschaft leisten trotzdem gute Arbeit? Und welche sind Fehlbesetzungen? Stimmen Sie ab!

In der FDP und bei unserem Wirtschaftsflügel der Union wird immer gerne von der Wunschkonstellation Schwarz-Gelb geredet. Aber es ist in Wahrheit nur politische Fantasie, mich und Guido Westerwelle als das neue politische Traumpaar hinzustellen. Mit Frank-Walter Steinmeier und der braven SPD war vieles einfacher. Denken Sie einmal daran, ob ein deutscher Außenminister vor Monaten mit einem Boykott der Afghanistan-Konferenz gedroht hätte.

Ich habe gelernt aus unseren neoliberalen Beschlüssen von Leipzig vor der Wahl 2005. Das hat uns damals den klaren Sieg gekostet. Hätten wir die Beschlüsse umgesetzt, hätte das die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinander klaffen lassen. Ich wollte Schwarz-Gelb nicht, liebe Wählerinnen und Wähler, Sie wollten Schwarz-Gelb. Sie haben sich gegen die Harmonie entschieden, die wir noch im TV-Duell verbreitet haben.

Da kann man dann am Ende auch als Bundeskanzlerin wenig gegen machen. Das gilt auch für internationale Beziehungen. Seit den Verhandlungen zum Kyoto-Protokoll habe ich mich - damals noch als Ministerin im Kabinett von Helmut Kohl - für einen engagierten Klimaschutz ausgesprochen. Die Ergebnisse von Kopenhagen können uns jetzt noch nicht zufriedenstellen.

Plötzlich alles ganz anders

Vor einem Jahr habe ich Ihnen an dieser Stelle gesagt, die Sozialversicherungen seien stabiler geworden und die Staatsfinanzen solider. Jetzt sieht die Lage anders aus. Unsere Staatsfinanzen sind in einem desolaten Zustand, wir kommen von Billionen Schulden nicht herunter. Und die Sozialversicherungen stehen dank der FDP vor einem tiefgreifenden Umbau hin zu mehr privater Vorsorge.

Ich verstehe, dass Ihnen all das Sorge macht. Ich würde Ihnen diese Sorge gerne nehmen, doch ich kann es zurzeit nicht. Zu viele, auch in meiner Partei, stützen den Kurs der FDP. Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, überschätzen die Macht einer Kanzlerin, wenn Sie glauben, ich könnte das ändern.

Was bleibt ist Vertrauen. Vertrauen auf Deutschlands Kraft und Stärken. Das ist gerade jetzt wichtig. Ich hoffe, dass auch in diese Regierung bald der Geist der Vernunft einzieht. Die Bundeskanzlerin steht bereit, diesen Prozess zu moderieren.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie alles in allem mit Dankbarkeit auf das vergangene Jahr zurücksehen können. All denen, die in diesem Jahr mit Sorgen und mit Trauer leben mussten, wünsche ich Trost und Kraft, um den Beginn des neuen Jahres trotz allem mit neuer Zuversicht begehen zu können.

Ich wünsche Ihnen allen ein erfülltes, ein glückliches und ein gesegnetes Jahr 2010."

© sueddeutsche.de/jja - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: