Nepal:Die Wut der Ausgegrenzten

Lesezeit: 5 min

In Nepal schlagen Proteste gegen die neue Verfassung in Gewalt um. Eigentlich sollte sie den Frieden festigen - stattdessen spaltet sie das Land. Vor allem Minderheiten fühlen sich benachteiligt.

Von Arne Perras, Kathmandu

Sie war acht, als ihre Eltern sagten: "Geh. Du wirst jetzt für unseren Gutsherrn arbeiten." Shanta Chaudhary hat den Tag nicht vergessen, an dem sie versklavt wurde. 20 Euro im Jahr sollten ihre Eltern dafür bekommen, dass die Tochter fortan im Haus ihrer Herren schuftete. 18 Jahre lang hat sie unter den Befehlen und Schlägen verschiedener nepalesischer Landbesitzer gelitten, bevor sie dem System entkam. Eines Tages warf ihr Herr sie aus dem Haus. Er hatte herausgefunden, dass sie sich manchmal davonschlich und einer Bewegung für Landlose anschloss.

Die Geschichte der Nepalesin Chaudhary verdeutlicht die Abgründe einer feudalen Gesellschaft, die Knechtschaft und Sklaverei zwar offiziell abgeschafft hat, aber das Erbe jahrhundertelanger Ausbeutung der unteren Schichten nur mühsam überwindet. Das System der Schuldknechtschaft wurde erst vor wenigen Jahren verboten. Chaudhary ist jetzt 35 Jahre alt und hat ihre Qualen in einem Buch aufgeschrieben, das in Nepal viel Beachtung fand. "Sie haben mir die Kindheit geraubt", sagt sie. Die Liebe der Eltern hat sie nicht erfahren. Sie musste täglich kämpfen, um satt zu werden und um ein paar Stunden zu schlafen. Niemand kümmerte sich, wenn sie krank war. Ihr Vater und ihre Mutter waren genauso gefangen, die Volksgruppe der Tharu hat ihr Land im Laufe der Jahrhunderte an Zuwanderer verloren und ist so in die Abhängigkeit geraten.

Doch Chaudhary ist der Knechtschaft entkommen und dann in einer der kommunistischen Parteien aufgestiegen. 2008 wurde sie in die verfassungsgebende Versammlung berufen. Nach Ablauf ihres Mandats beschloss sie, den Schulbesuch nachzuholen, der ihr als Kind verwehrt worden war. In ihrer Heimat hat sie Einfluss. Die Leute wissen, dass sie sich für die Rechte der Tharu einsetzt, aber jede Form der Gewalt ablehnt. Kräfte wie Chaudhary werden jetzt gebraucht, um in Nepal den Frieden zu sichern. Denn das Land rutscht jeden Tag tiefer in eine Krise, aus der es keinen einfachen Ausweg gibt.

Während die Überlebenden des Erdbebens am 25. April noch auf Nothilfe angewiesen sind und der Wiederaufbau in den Bergen nur schleppend in Gang kommt, nehmen in der südlichen Tiefebene an der indischen Grenze die Spannungen zu. Dort haben viele das Gefühl, vom politischen Establishment ausgegrenzt zu werden. Sie gehören entweder zu den Tharu, die als Ureinwohner der Tiefebenen gelten. Oder zu den Madhesi, die etwas später einen breiten Gürtel im Süden Nepals besiedelten. In beiden Gruppen schwelt die Unzufriedenheit.

Ausschreitungen in Kathmandu zwischen Hindu-Aktivisten und der nepalesischen Polizei. (Foto: Prakash Mathema/AFP)

Eine Seitengasse in der Hauptstadt Kathmandu: Die Aktivistin Chaudhary trifft sich mit einer Gruppe Gleichgesinnter, um zu beraten, wie man die Gewalt in ihrer Heimat stoppen kann. Sie ist entsetzt über das Töten im Süden und Westen Nepals. "Damit ist nichts zu gewinnen", sagt sie. Doch vielerorts brennen jetzt Häuser, die Wut kocht hoch. Fast täglich gibt es Streiks und Zusammenstöße. Mehr als 30 Tote hat die Krise seit Mitte August schon gefordert. Auslöser ist der Streit um Nepals neue Verfassung. Sie sieht vor, das Land in sieben Provinzen aufzuteilen, wogegen Tharu und Madhesi Sturm laufen. Sie haben unterschiedliche Interessen, aber rufen beide zum Boykott auf. Angehörige der Tharu wollen vermeiden, dass ihre Siedlungsgebiete auf mehrere Provinzen verteilt werden. Sie fürchten, dass ihr ohnehin geringer Einfluss noch mehr schwindet. Die Madhesi fordern eine eigene Provinz, zudem wollen sie Wasserressourcen in den Bergen kontrollieren. Eine Formel, die alle zufriedenstellt, ist nicht in Sicht.

Ein Mob zog einen Polizisten aus der Ambulanz, tötete ihn und setzte das Fahrzeug in Brand

Die Exzesse der Gewalt sind bislang nicht zu stoppen. Am Freitag töteten Polizisten fünf Demonstranten, die Schüsse seien unvermeidlich gewesen, rechtfertigte Polizeioffizier Kamal Singh Bam das Vorgehen der Sicherheitskräfte, die nun immer häufiger ins Visier wütender Angreifer geraten. Ein verletzter Polizist sollte mit einem Krankenwagen in die Klinik gefahren werden. Doch ein Mob stoppte die Ambulanz, zog den Beamten heraus, tötete ihn und setzte das Fahrzeug in Brand. Im August hatten Angreifer im Westen Polizisten mit Dolchen, Speeren und Äxten angegriffen und acht von ihnen getötet. Einer wurde lebendig verbrannt.

Wer die Gruppen zur Gewalt aufstachelt, ist nicht immer klar, in einigen Fällen haben wohl auch extreme Splittergruppen der Maoisten ihre Hände im Spiel. Die Guerillatruppe der maoistischen Bewegung führte zehn Jahre lang Krieg gegen Nepals Monarchie. Tausende Menschen starben, bevor 2006 ein Frieden ausgehandelt wurde. Ein Jahr später schaffte das Parlament die Monarchie ab, Ex-Rebellen traten in die Streitkräfte ein, ihre Anführer wechselten in die Politik.

An einer neuen Verfassung arbeiten die drei großen Parteien Nepals nun schon seit 2008. Auch die Maoisten nehmen daran teil. Sie versprachen Gerechtigkeit und propagierten stets, dass ein föderales System Nepal in eine bessere Zukunft führen könne. Eine neue Verfassung sollte den Frieden festigen, doch nun zeigt sich, dass die Pläne das Land eher spalten. Manche fürchten, dass Nepal auf einen Konflikt zusteuert, in dem radikale Kräfte die ethnische Karte spielen und eine Balkanisierung des Landes herbeiführen. Noch ist in Kathmandu aus den wichtigen politischen Lagern zu hören, dass die Krise beherrschbar sei. Die Regierung bietet an, mit Führern der Madhesi und Tharu zu verhandeln, doch seit Sonntag stimmen die Abgeordneten Artikel für Artikel der Verfassung ab. Auf die Nöte der Minderheiten könne man danach eingehen, heißt es. Doch darauf wollen sich die Gegner nicht einlassen. Shanta Chaudhary sagt, das politische Establishment in Kathmandu tue zu wenig dafür, die Kultur der Tharu zu schützen. Die Politikerin fordert mehr Bildungsmöglichkeiten und dass Kinder auch in ihrer eigenen Sprache unterrichtet werden können. Radikale Kräfte wollen indes für einzelne Ethnien so viel Eigenständigkeit erstreiten, dass mache um die staatliche Einheit fürchten.

Die Nepalesin Shanta Chaudhary hat als Sklavin viel Leid erlebt. Heute setzt sie sich für die Minderheit der Tharu ein. (Foto: Arne Perras)

Indien ist der Elefant im Raum, über den niemand sprechen will, sagt ein renommierter Publizist

Kann Nepal an dieser Krise zerbrechen? Das hängt zum einem davon ab, ob die großen Parteien bereit sind, mit allen Gruppen zu verhandeln, anstatt die Verfassung unter sich auszumachen. Zum anderen ist wichtig, wie sich der große Nachbar im Süden verhält. "Indien ist der Elefant im Raum, über den niemand spricht", sagt Kunda Dixit, Herausgeber der Nepali Times. "Aber keiner weiß, was die Inder in dieser Krise wirklich wollen."

Indien kann die Unruhen nicht ignorieren. Tharu und Madhesi sind Ethnien, die auch auf indischer Seite leben, die Verbindungen sind eng. Gleichzeitig hat der kleine Staat im Himalaja große strategische Bedeutung, eingezwängt zwischen den beiden größten Mächten Asiens. In Indien gilt Nepal nicht nur als Pufferstaat, um dem Einfluss Chinas entgegenzuwirken. Aus dem Himalaja sprudelt auch das Wasser in die Ebenen hinunter, für das Milliardenvolk der Inder ist es unverzichtbar. Grund genug, darauf zu achten, dass im kleinen Nepal nichts aus dem Ruder läuft.

Shanta Chaudhary interessiert sich weniger für geostrategische Überlegungen als für das Wohl der Tharu. Sie versucht, die gemäßigten Kräfte in ihrer Heimat zu mobilisieren, damit Radikale nicht die Oberhand gewinnen. Früher, als sie noch geschlagen und ausgebeutet wurde, überlegte auch sie, ob sie sich nicht den Maoisten anschließen sollte. Viele Tharu taten das. Die Rebellen versprachen Gerechtigkeit. Aber dann bekam Chaudhary mit, dass auch die Guerillatruppe brutal und willkürlich handelte. Als die Maoisten den Bruder ihres Mannes als angeblichen Verräter exekutierten, wandte sie sich von den Aufständischen ab. "Ich habe damals gesehen, dass Gewalt zu nichts Gutem führt. So ist es auch jetzt. Wir müssen verhandeln. Und wir können nicht nur Rechte einfordern, wir haben auch eine Verantwortung für unser Land." Für sie heißt das, darauf zu achten, dass der Staat Nepal nicht auseinanderbricht.

© SZ vom 16.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: