Natur:Arglistig, gierig, unersättlich

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Das Raubtier gilt als Inbegriff des Bösen - vielleicht auch deshalb hat es bis heute keine rechte Chance in Deutschland.

Von Werner Bartens

Das Märchen vom "Wolf und den sieben Geißlein" müsste aus aktuellem Anlass umgeschrieben werden. "Der Mensch und die sechs Wölflein" wäre passender. Einer nach dem anderen der im Bayerischen Wald aus ihrem Gehege ausgebüxten Wölfe wird unerbittlich gejagt und erlegt. Aber anders als für die Geißlein im Märchen gibt es für die entlaufenen Wölfe aus dem Nationalpark wohl kein Happy End. Dazu ist die Furcht vor dem scheuen Raubtier aus der Überfamilie der "Hundeartigen" zu verbreitet und gleichsam in das kulturelle Gedächtnis der Menschheit eingebrannt.

Man ist versucht, die Wolfsangst des Menschen als anthropologische Konstante zu bezeichnen. "So frisst er euch alle mit Haut und Haar", heißt es schließlich wiederholt bei den Brüdern Grimm. Und schon in der germanischen Mythologie hat Siegesgott Odin die beiden Wölfe Geri und Freki bei sich - "der Gierige" und "der Gefräßige", so heißen sie. Immer wieder werden Wölfe in Sagen und Legenden als ebenso brutale wie trickreiche Jäger und verschlagene Bestien dargestellt. Auf realen Erlebnissen beruhen diese Einschätzungen selten. In Deutschland waren die Tiere bereits um 1750 weitgehend ausgerottet. Auch wenn es inzwischen wieder Dutzende Wolfsrudel - hauptsächlich in Ostdeutschland und Niedersachsen - gibt, so hat der Mensch in den vergangenen Jahrzehnten kaum seinen Frieden mit dem scheuen Räuber gemacht.

Bis sich Landwirtschaft und Weidehaltung des Menschen ausdehnten, war der Wolf das am weitesten verbreitete Säugetier weltweit. Viele Völker verehrten ihn für sein Jagdgeschick und seine Ausdauer. Namen wie Wolfgang, Wolfhard und Adolf (bedeutet so viel wie "Edelwolf") betonen das Kriegerische und Mannhafte. Über Jahrtausende war der Wolf der wichtigste Konkurrent des Menschen um Nahrung und machte ihm Rot- und Niederwild streitig. Bis ins 19. Jahrhundert gibt es zudem zahlreiche Berichte darüber, dass Wölfe weidende Schafe, Ziegen und Rinder gerissen haben und den Bauern empfindliche Verluste zufügten.

Diese Schilderungen sind meist stark übertrieben, oftmals waren zudem wildernde Hunde für den Viehschaden verantwortlich. Doch das Bild vom Wolf als besonders arglistigem und grausamem Tier blieb. So fand sich 1758 im "Grossen vollständigen Universal-Lexicon" die Beschreibung des Wolfes als "schädlichstes Geschöpf Gottes", das nicht nur Tiere, sondern auch "die Menschen angreiffet, zerreisset und frisset". Auch in der berühmten Jugendstil-Ausgabe von "Meyers Großem Konversations-Lexikon" (1902 bis 1908) wird der Wolf noch als "feig und furchtsam" denunziert, zudem "würgt er viel mehr, als er fressen kann". "Ein Weib oder Kind greift er wohl an, aber an den Mann gehen in der Regel nur vom Hunger gepeinigte Meuten", heißt es dort weiter, obwohl das Tier in Mitteleuropa auch um 1900 längst unter Artenschutz gehört hätte.

Das unterstellte heimtückische Verhalten des Wolfs, sein Auftauchen in der Dämmerung und seine geschickte Kooperation bei der Jagd im Rudel machten ihn zur idealen Verkörperung des Finsteren und Bösen, das vom edlen Jäger (die früher oft Adelige waren) zur Strecke gebracht werden musste. Im Kampf Gut gegen Böse wurde die Niedertracht und Brutalität des Wolfs nahezu voyeuristisch übersteigert. Wer die mythisch überhöhten Schilderungen rund um die "Bestie des Gévaudan" liest, die in den 1760er-Jahren in Südfrankreich bis zu 100 Kinder, Frauen und Jugendliche getötet haben soll, braucht keinen Horrorfilm zu sehen. Neben seiner Grausamkeit werden dem Wolf etliche negative menschliche Charaktermerkmale wie Habgier, Streitlust und Verschlagenheit zugeschrieben - obwohl bis heute nicht klar ist, ob die Menschen in Frankreich nicht anderen Tieren oder gar Verbrechen zum Opfer fielen.

Kein Wunder bei dieser Vorgeschichte, dass Dracula und andere Vampire aus List die Wolfsgestalt annehmen können. Zum Werwolf wird der Mensch den meisten Überlieferungen zufolge, wenn er einen Pakt mit dem Teufel eingeht - auch das kein Imagegewinn für das nachtaktive Raubtier. In vielen Mythen und Märchen wird das Verhalten des Wolfs zudem mit Merkmalen des rücksichtslosen Verführers und Sittenstrolchs ausgeschmückt. "Rotkäppchen und der böse Wolf" ist nicht nur in psychoanalytischer Lesart als Warnung vor den Übergriffen gewalttätiger Männer zu verstehen. In einer französischen Urfassung von Charles Perrault aus dem Jahr 1697 gibt es zahlreiche erotische Anspielungen - so muss sich Rotkäppchen nackt zum Wolf ins Bett legen. Gefressen wird es trotzdem und die Großmutter auch. Kein Wunder, dass ein Tier mit so viel historischem Ballast auf den geduckten Schultern in Bayern nicht frei herumlaufen darf.

© SZ vom 11.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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