Nato:Sehnsucht nach der Abschreckung

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Präsenz über dem Baltikum: Zwei amerikanische F-22 Raptor auf ihrem Flug zur Nato-Luftwaffenbasis Ämari in Estland. (Foto: Wolfgang Rattay/Reuters)

Die baltischen Staaten fühlen sich von der Nato nicht ausreichend vor Russland geschützt - und hoffen auf Verstärkung.

Von Daniel Brössler, Tallinn

Wenn von der Lücke die Rede ist, weiß Generalleutnant Riho Terras, wovon er spricht. In den Neunzigerjahren, als er in München an der Bundeswehr-Universität studierte, führte ihn die lange Busfahrt immer auch mitten durch den "Korridor", wie Terras die Lücke auch nennt. Gemeint ist der Flaschenhals, in dem ein kleines Stück Litauen eingezwängt ist zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Weißrussland. Das ist, militärisch gesprochen, die "Suwałki-Lücke". Sie stellt über den polnischen Grenzort Suwałki die einzige Landverbindung dar zwischen Litauen, Lettland und Estland sowie dem Rest der Nato. "Wenn dieser Korridor geschlossen wird, verwandeln sich die baltischen Staaten in eine Insel", sagt Terras, der Chef der estnischen Streitkräfte. Im Ernstfall, befürchtet er, wäre Russland in der Lage, die drei Länder in kürzester Zeit von Verstärkung abzuschneiden.

Der Ernstfall. Die Nato hat sich verändert seit der Annexion der Krim und seit Beginn des von Russland befeuerten Kriegs im Osten der Ukraine. Im Bündnis wird wieder sehr konkret über diesen Fall nachgedacht und wie er verhindert werden kann. Wenn die Staats- und Regierungschefs der 28 Nato-Staaten Anfang Juli zum Gipfel in Warschau zusammenkommen, dann werden sie die Rückbesinnung auf ein altes Mittel besiegeln: die Abschreckung. Es werde eine Allianz zu sehen sein, die "alle Abschreckungsinstrumente des 21. Jahrhunderts stärkt", kündigte kürzlich US-Vizeaußenminister Antony Blinken an.

Was das heißen muss, ist aus Sicht der meisten östlichen Nato-Staaten klar. Sie fordern seit geraumer Zeit die Verlegung von Truppen des Bündnisses in ihre Länder. Nach der Erweiterung 1999 und 2004 hatte die Allianz das vermieden - auch aus Rücksicht auf die Nato-Russland-Grundakte, in der das Bündnis 1997 zugesagt hatte, dass sie "im gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben eher dadurch wahrnimmt, dass es die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass es zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert". Zwar hat die Nato die praktische Zusammenarbeit mit Russland 2014 suspendiert, an der Gültigkeit der Grundakte aber hält sie fest.

Dennoch will sie sich in Warschau nun auf das verständigen, was im Nato-Sprech forward presence genannt wird. Die Vorschläge sehen vor, in jeden baltischen Staat sowie nach Polen rotierend jeweils Nato-Truppen in Bataillonsstärke zu entsenden. Die Bundeswehr wird dabei voraussichtlich in Litauen die Führung übernehmen. Die Rede ist also von je 300 bis 800 Soldaten. Das liege "deutlich unter jeder denkbaren Definition substanzieller Kampftruppen", betonte am Wochenende Nato-Vizegeneralsekretär Alexander Vershbow auf der Lennart-Meri-Konferenz in Tallinn, und stehe damit im Einklang mit der Grundakte.

Neben ihm saß dabei ein Mann, der das nicht so gerne hörte: Polens Außenminister Witold Waszczykowski. Die Lage habe sich durch die russische Aggression vollkommen verändert, überdies stamme die Grundakte aus der Zeit vor dem polnischen Nato-Beitritt. "Wir haben nicht das Gefühl, dass wir diese Vereinbarung respektieren müssen", sagte er. Irritiert bemerkte Vershbow, dass es vor Polens Beitritt so einiges an Beschlüssen gegeben habe. Wenn man in Warschau Einigkeit wolle, "dann ist es nicht hilfreich, Dinge auf den Tisch zu legen, die spalten", warnte auch Philippe Errera, Direktor im französischen Verteidigungsministerium.

Ex-Oberbefehlshaber Clark sorgt sich wegen Moskaus Übermacht in der Region

Die Haltung der polnischen Gastgeber beunruhigt nicht nur die westlichen Alliierten. In den baltischen Staaten wird befürchtet, Polen könnte als Gastgeber das Klima des Warschauer Gipfels vergiften. Politiker und Spitzenmilitärs setzen hier eher auf gute Stimmung und Einigkeit. "Die Einstellung in der Nato hat sich wirklich verändert. Die Herausforderungen im Süden und im Osten konkurrieren nicht mehr", lobt Generalleutnant Terras. Estnische Soldaten seien etwa in Afghanistan im Einsatz und kaum habe Frankreich gerufen, habe man sie auch in die Zentralafrikanische Republik entsandt. "Was hat ein estnischer Soldat in Zentralafrika zu suchen? Absolut nichts. Aber wir waren da, weil unsere Alliierten uns darum baten", sagt er. "Wir versuchen, unseren Teil zu erfüllen. Jetzt erwarten wir nur, dass auch unsere Sorgen ernst genommen werden."

"Die Allianz muss dringend handeln, um die Abschreckung in den baltischen Nato-Staaten zu verstärken, wo die Allianz am verwundbarsten ist", fordern der frühere Nato-Oberbefehlshaber Wesley Clark, der frühere Nato-Kommandeur Egon Ramms und andere in dem in Tallinn veröffentlichten Bericht "Die baltische Lücke der Nato schließen". Als besonderes Problem beschreiben sie die militärische Übermacht Russlands in der Region im Allgemeinen und die "Suwałki-Lücke" im Besonderen. Die nach der Krim-Annexion geschaffene Speerspitze (VJTF) sei weder schnell noch groß genug, um möglicherweise eingeschlossenen baltischen Staaten zur Hilfe zu kommen. Nötig sei eine glaubwürdige Präsenz vor Ort. Diese müsse einem russischen Angriff bis zum Eintreffen von Verstärkung standhalten können. Er wünsche sich vom Warschauer Gipfel, sagt Terras, eine gut ausgestattete "kampffähige Bataillongruppe als Minimum für jeden baltischen Staat". Es gehe darum, "dass nicht nur wir, sondern die ganze Nato vom ersten Moment des Konflikts an involviert ist". Wenn die Truppen vor Ort seien, sei "das ein klares Zeichen an Russland, dass es hier nicht nur um frühere Kolonien geht, sondern um die ganze Nato".

© SZ vom 17.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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