Naher Osten:Jubel am Straßenrand, Trauer am Massengrab

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Der IS verliert Territorium und begeht auf dem Rückzug hundertfachen Mord. Die Befreiung von Mossul und Raqqa wird lange dauern.

Von Paul-Anton Krüger, Kairo

Nachbarn fallen sich weinend in die Arme. Menschen stehen jubelnd an den Straßen, spreizen die Finger zum Victory-Zeichen. Es sind wieder Szenen der Befreiung, der Erleichterung, die das irakische Fernsehen zeigt. Diesmal aus Hammam al-Alil, der letzten größeren Stadt im Süden von Mossul, die noch unter der Kontrolle der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) stand. Die Menschen in dem Ort am westlichen Tigris-Ufer haben sich tagelang in Häusern verbarrikadiert, um nicht von den Dschihadisten aufgegriffen und weiter Richtung Mossul verschleppt zu werden. Sie wussten, was ihnen gedroht hätte, wenn sie sich dann widersetzt hätten.

In der Landwirtschaftsschule einige Kilometer außerhalb der Stadt stießen die irakische Armee und die Bundespolizei auf ein Massengrab. Mehr als 100 Leichen, die Schergen des IS hatten die Menschen erschossen oder ihnen die Hälse durchgeschnitten. Die Soldaten fanden auch Kleider von Frauen und Kindern, Stofftiere. Forensiker haben begonnen, Leichen und Überreste zu untersuchen. Nach Aussagen von Bewohnern wurden die Menschen in den letzten Tagen ermordet, bevor die irakische Armee am Sonntag den Ort erreichte.

In der Grube waren aber auch skelettierte Leichen, sie müssen dort schon länger gelegen haben. Es wird befürchtet, dass es noch weit mehr unentdeckte Opfer gibt. Männer seien exekutiert worden, wenn sie früher für Iraks Sicherheitskräfte gearbeitet hatten, sagen die Bewohner. Der IS habe sie beschuldigt, mit den anrückenden Truppen zu kollaborieren. Auch schon 2014 hatte der IS laut den UN dort ein Massaker an Soldaten und Polizisten verübt.

Hinterlassenschaft des Terrors: Soldaten der irakischen Armee untersuchen einen Leichnam. Er stammt aus einem Massengrab nahe der Stadt Hammam al-Alil. (Foto: Ahmad al-Rubaye/AFP)

Wie Bewohner von Hammam al-Alil berichteten, posierten die Dschihadisten in Armee-Uniformen, um die Menschen aus ihren Verstecken zu locken - und erschossen jeden, der sich zeigte. Sie hatten gefordert, dass ihnen alle Männer übergeben werden. Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen soll der IS mitgenommen haben, wohl um sie im Kampf um Mossul als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Kolonnen von Liefer- und Lastwagen waren aus Mossul gekommen, um bis zu 25 000 Zivilisten dorthin zu bringen. Kampfflugzeuge der von den USA geführten Koalition zerstörten viele der noch leeren Fahrzeuge, um das zu verhindern. Insgesamt sind bislang nach UN-Angaben etwa 35 000 Menschen vor den Kämpfen geflohen; die Zahl steigt stark, seit Bewohner Mossuls Teile der Stadt verlassen können.

Der Islamische Staat gerät zunehmend unter Druck: Kurdische Peschmerga haben begonnen, den menschenleeren Ort Baschiqa Haus für Haus zu durchsuchen, hier wohnten einst überwiegend aramäische Christen und Schabak, schiitischen Kurden. 100 IS-Kämpfer hatten sich dort noch verschanzt. Im Süden sind irakische Armee-Einheiten bis auf vier Kilometer an den Flughafen von Mossul vorgerückt, im Osten haben sie die Stadtgrenze bereits überschritten. Im Westen versuchen schiitische Milizen dem IS bei Tal Afar die Verbindung nach Syrien abzuschneiden. Zugleich haben in Syrien 30 000 kurdische und sunnitisch-arabische Kämpfer eine Offensive zur Befreiung Raqqas gestartet, der vom IS ausgerufenen Hauptstadt seines Kalifats. Sie sind in den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) zusammengeschlossen.

Für ihre Selbstmordattentate verwenden die Dschihadisten nun auch Krankenwagen

Anzeichen dafür, dass der IS den Kampf um Mossul meiden wird, gibt es keine. In den östlichen Vierteln der zweitgrößten irakische Stadt treffen Eliteeinheiten der Armee auf erbitterten Widerstand. Dabei erwarten die Kommandeure der Operation, dass der IS die Viertel am Ostufer des Tigris nach und nach aufgeben wird. Unter den Brücken über den Fluss haben die Dschihadisten laut Bewohnern Autobomben oder Sprengladungen platziert. Den Westteil der Stadt haben sie mit Hunderten Barrikaden gegen die anrückenden Truppen befestigt, wie sich auf Satellitenbildern erkennen lässt. Gebäude zwischen Stadtrand und Flughafen rissen sie nieder, um freie Sicht und freies Schussfeld zu haben.

SZ-Karte; Quelle: IHS Markit (Foto: SZ-Grafik)

Zugleich verüben Schläferzellen weiter Anschläge in anderen Landesteilen. Bagdad ist davon zwar bislang weitgehend verschont geblieben; die Sicherheitsvorkehrungen in der Hauptstadt sind seit dem Anschlag Mitte Juli auf ein Einkaufszentrum im Stadtteil Karrada mit mehr als 340 Toten verschärft worden. In Tikrit und Samarra aber sprengten sich Selbstmordattentäter in Krankenwagen in die Luft und töteten insgesamt mehr als 30 Menschen. In Samarra zielte der Attentäter auf schiitische Pilger. In der zweiten Novemberhälfte steht das Arba'in-Fest bevor, bei dem die Schiiten des Todes von Imam Hussein in der Schlacht von Kerbela gedenken. Millionen Pilger machen sich zu diesem Anlass zu Fuß aus dem ganzen Land und dem benachbarten Iran in die Stadt auf. Der IS wird sie angreifen, wo immer er kann.

In Syrien haben die Milizen der SDF mit US-Luftunterstützung einige vom IS kontrollierte Dörfer 50 Kilometer nördlich von Raqqa eingenommen. Mit einer Attacke auf die Stadt selbst noch in diesem Jahr rechnet das US-Militär aber nicht mehr. Es gebe derzeit keine Kräfte, die dazu allein in der Lage seien, hieß es. US-Stabschef General Joseph Dunford sagte, es werde Monate dauern, um den Ort zu isolieren. Erschwert wird der Kampf gegen den IS in Syrien durch die Feindschaft zwischen der Türkei und der syrischen Kurdenmiliz YPG. Ankara betrachtete den wichtigen Verbündeten der USA als Ableger der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Dunford hatte am Sonntag bei einem Besuch in Ankara der Türkei zugesagt, die YPG würden sich nicht an der Rückeroberung Raqqas beteiligen, die Türkei werde in die Planungen einbezogen. Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu machte am Dienstag deutlich, dass seine Regierung den Zusicherungen nicht traut: Ankara treffe Vorkehrungen, sollten Zusagen nicht eingehalten werden, sagte er.

Bei zwei Luftangriffen in der Provinz Idlib sind Rettungskräften zufolge 21 Menschen getötet worden. Aktivisten machten die syrische Regierung sowie russische Kampfjets für die Luftangriffe verantwortlich.

© SZ vom 09.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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