Missbrauch in der katholischen Kirche:Angst vor der ganzen Wahrheit

Missbrauchskandal in der katholischen Kirche

Ein Priester hält einen Rosenkranz und eine bischöfliche Erklärung zu den Missbrauchsfällen durch Jesuiten-Pater in der Hand (Archivbild aus dem Jahr 2010)

(Foto: dpa)

Das gemeinsame Projekt liegt in Trümmern - und niemand will Schuld daran haben: Katholische Kirche und Forscher streiten sich über die wissenschaftliche Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Die größten Verlierer des Streits stehen jedoch schon fest: die Opfer, die wohl noch viele Jahre auf Antworten warten müssen.

Von Roland Preuß

Der Wille war da, daran gibt es keinen Zweifel, damals im Sommer 2011. "Wir wollen auch der Wahrheit, die möglicherweise noch unentdeckt in Akten vergangener Jahrzehnte liegt, auf die Spur kommen", sagte Bischof Stephan Ackermann, der Missbrauchs-Beauftragten der Deutschen Bischöfe vor Journalisten in Bonn. Man wolle mithilfe "unabhängiger Experten" besser verstehen, wie es zu sexuellem Missbrauch durch Kirchenmitarbeiter kommen konnte - und wie dies künftig zu verhindern sei.

Neben ihm schwärmte der Kriminologe Christian Pfeiffer von "Tiefenbohrungen" in Kirchenarchiven. Für beide Seiten schien es jetzt optimal zu laufen: Die von Missbrauchsskandalen erschütterte katholische Kirche zeigte ihren Willen zur schonungslosen Aufklärung, der Kriminologe Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), hatte ein spannendes Forschungsprojekt über 450.000 Euro eingefädelt.

Jetzt, eineinhalb Jahre später, liegt das gemeinsame Projekt in Trümmern, und die Beteiligten streiten sich wie ein frisch getrenntes Ehepaar, das gerade den gemeinsamen Hausrat in Stücke geschlagen hat. Der Kampf um die öffentliche Deutung des Scheiterns hat begonnen. Daneben aber ist es ein schwerer Rückschlag für die Aufklärung des sexuellen Missbrauchs durch Priester und andere Kirchenmitarbeiter. Womöglich wird die Öffentlichkeit nun nie ein umfassendes Bild über den Missbrauch in deutschen Diözesen gewinnen.

Wie viele Fälle gibt es seit 1945? Fand der Missbrauch eher im Pfarrhaus oder auf Jugendfreizeiten statt? Wie gehen die Täter vor ihrem ersten Kuss oder Griff unter die Gürtellinie typischerweise vor? Wie hat die Kirche reagiert, als sie davon erfuhr? Und was kann man daraus für die Zukunft lernen, um solche Taten zu verhindern? Diese Fragen und einige mehr sollten die Forscher beantworten - und so mitunter lebenslanges Leid künftiger Opfer verhindern.

Die KFN-Studie war das Kernstück der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Dementsprechend aufwendig war sie angelegt: In neun der 27 Diözesen sollten sämtliche Personalakten seit Kriegsende auf Missbrauchsfälle durchforstet werden, in den übrigen Diözesen für die Jahre 2000 bis 2010. Betroffene sollten Fragebögen ausfüllen, zudem waren zusätzlich Interviews mit Opfern und Tätern geplant.

Seit den Verfahren gegen den Philosophen und Astronomen Galileo Galilei wird der Kirche ein schwieriges Verhältnis zur Wissenschaft nachgesagt. Doch dies ist kein Konflikt über wissenschaftliche Erkenntnisse wie es die Astronomie und das Weltbild im Fall Galileo waren. Dies ist eine Geschichte über Offenheit und Aufklärungswillen - und darüber, wie weit man sich Außenstehenden hierfür ausliefert.

Am besten betrachtet man den Fall KFN gegen die Kirche von Anfang an. Im Juli 2011 unterzeichneten Professor Pfeiffer und der Verband der Diözesen Deutschlands (VDD) - mit seinem Geschäftsführer Pater Hans Langendörfer als Vertreter der deutschen Bischöfe - den Vertrag über das Projekt. Es ist ein Standard-Vertrag des Instituts. Die Forscher versprechen darin, den Datenschutz zu achten, in die Kirchenarchive dürfen nur pensionierte Richter oder Staatsanwälte, sie reichen die anonymisierten Daten an die Wissenschaftler weiter. Die Kirche wird fortlaufend informiert, Zwischenergebnisse dürfen nicht veröffentlicht werden. Der Verband der Diözesen hat das Recht, die Ergebnisse als erster öffentlich zu präsentieren - und damit zu interpretieren. Erst acht Wochen später sollten die Wissenschaftler frei sein, ihre Ergebnisse zu publizieren.

Streit um den Streit

Das klingt nach ausreichend vielen Privilegien für den Auftraggeber - und doch entwickelte sich Streit um den Vertrag. In der katholischen Kirche formierte sich Widerstand gegen das Projekt. Als Erstes wurde er sichtbar durch das "Netzwerk Katholischer Priester". Drei Wochen nach Vorstellung des Vorhabens geißelte der erzkonservative Zusammenschluss von Priestern auf dem Internetportal kath.net die Pläne als juristisch wie auch menschlich höchst bedenklich. Man sei zwar für wirksame Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch, hieß es in einer Stellungnahme. Eine "pauschale Herausgabe aller Personalakten" sei jedoch ein "unerlaubter Eingriff in die Persönlichkeitsrechte". Dies beschädige "nachhaltig das Vertrauensverhältnis katholischer Kleriker gegenüber ihren Bischöfen und Oberen". Die Bischöfe müssten davon "Abstand nehmen".

Das Netzwerk spricht bei Weitem nicht für alle katholischen Priester. Dennoch keimten auch bei den Bischöfen die Bedenken. Die Diözesen München-Freising und Regensburg zogen sich aus dem wissenschaftlichen Beirat des Projekts zurück, er war zur gegenseitigen Beratung gedacht. Nach Angaben aus Kirchenkreisen wurden in der Bischofskonferenz Forderungen laut, das Projekt neu anzulegen. Umsetzen sollte dies Pater Langendörfer als Vertreter der Diözesen.

Doch die Sache entwickelte sich zum Konflikt zwischen Pater und Professor. Keiner war als streitlustig bekannt. Pfeiffer ist ein selbstbewusster Forscher, sehr präsent in den Medien. Der Kriminologe hat einen guten Riecher für aktuelle Aufregerthemen. Er ist kein Feind der Kirche und verteidigt die Geistlichen in der Missbrauchsdebatte öffentlich gegen pauschale Verdächtigungen. Langendörfer dagegen wirkt eher zurückhaltend und betont im Zweifelsfall lieber seine Machtlosigkeit gegenüber den Bischöfen, als sich in den Vordergrund zu drängen. "Hier sind zwei Kulturen aufeinandergetroffen, die sich nicht vereinbaren ließen", sagt Langendörfer. "Eine vorsichtige Kirche, die sich der Datensicherheit sowie einem angemessenen Datenschutz im Interesse derer, die sich an Opfer-und Täterinterviews beteiligen, verpflichtet sieht, und ein mitunter etwas sprunghafter Professor, der unter Berufung auf die Wissenschaftsfreiheit diesen Themen keine angemessene Bedeutung einzuräumen scheint." Das Vertrauensverhältnis sei "zerrüttet - auch durch unbedachte Äußerungen von Professor Pfeiffer". Haben hier zwei Persönlichkeiten nicht zueinandergepasst? Wollten die Wissenschaftler keine Rücksicht nehmen auf den Datenschutz?

Mögliche unbedachte Äußerungen beider Seiten lassen sich kaum mehr nachvollziehen, wohl aber der Konflikt darüber, ob und wie man noch Änderungen am Projekt vornimmt. Im Vertragsentwurf des VDD vom Mai vergangenen Jahres, dessen Wortlaut der Süddeutschen Zeitung vorliegt, fordert die Kirche letztlich die Kontrolle über die spätere Präsentation der Untersuchung. "Über die Veröffentlichung" der Zwischen- und Abschlussberichte des Projekts, "insbesondere Art und Umfang der Vorstellung der Untersuchungsergebnisse gegenüber der Öffentlichkeit, entscheiden VDD und KFN gemeinsam. Ist eine Einigung nicht möglich, unterbleibt die Veröffentlichung." Das heißt: Kommen die Forscher zu unliebsamen Ergebnissen, könnte die Studie in der Schublade verschwinden. Alle Datenbestände der Untersuchung seien zudem "an den VDD herauszugeben", heißt es im Entwurf weiter.

Pfeiffer lehnte dies empört als "Auftragsforschung" ab, die mit der Freiheit der Wissenschaft nicht vereinbar sei. Die Regelung hätte auch die Doktorarbeiten im Rahmen des Projekts gefährdet. Dissertationen müssen veröffentlicht werden, ein Nein der Kirche hätte die jahrelangen Mühen der Nachwuchsforscher zunichte gemacht. Als das Projekt nicht vorankam, kündigten zwei eigens angeworbene Psychologinnen am KFN, wie Pfeiffer vergangenen Oktober an alle Bischöfe schrieb. Der Brief war ein letzter Versuch, das Vorhaben doch noch zu retten. Man habe nur noch auf einer Absprache der Veröffentlichungen bestanden, sagt Langendörfer; die Kirche habe auf ihren Zensurwünschen beharrt, sagt Pfeiffer.

Am Ende ist man sich nicht einmal mehr einig, worüber man streitet. Langendörfer sagt, bis zuletzt habe es offene Fragen des Datenschutzes gegeben, Pfeiffer hält alle Fragen für geklärt. Er fühlt sich hintergangen, weil er Informationen darüber erhalten habe, dass inzwischen Akten über Missbrauchsfälle vernichtet worden seien. Damit wäre seiner Untersuchung in den Kirchenarchiven die Grundlage entzogen.

Nun will jede Seite auf getrennten Wegen der Wahrheit auf die Spur kommen. Pfeiffer ruft die Missbrauchsopfer auf, freiwillig und anonym Fragebögen auszufüllen. Langendorfer will das Projekt mit einem anderen Partner fortsetzen. Die Opfer jedenfalls werden noch jahrelang auf Antworten warten müssen.

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