Migration:Meer der Tragödien

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Knapp 10000 Menschen sind seit Januar 2014 bei dem Versuch ertrunken, das europäische Festland zu erreichen.

Von Ruth Eisenreich, Berlin

Mindestens 2516 Menschen sind allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 2016 beim Versuch ertrunken, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen - deutlich mehr als im selben Zeitraum der vergangenen beiden Jahre. Das ergibt sich aus einer aktuellen Auswertung der Internationalen Organisation für Migration (IOM), einer zwischenstaatlichen Organisation mit 162 Mitgliedstaaten. Auf der zentralen Mittelmeerroute, die nach Italien führt, starb demnach einer von 23 Menschen, die die Reise antraten.

Als im Oktober 2013 bei einem Schiffsunglück vor Lampedusa mehr als 300 Menschen ertranken, startete die IOM ihr "Missing Migrants Project", in dessen Rahmen sie systematisch Daten zu Todesfällen von staatlichen Quellen, ihren eigenen Büros, NGOs und aus Medienberichten sammelt und auswertet. "Damals war die Welt schockiert", sagte Frank Laczko vom IOM am Mittwoch bei der Präsentation der Studie in Berlin. Doch seitdem steige die Zahl der Toten immer weiter. Insgesamt sind demnach seit Januar 2014 beinahe 10 000 Menschen allein im Mittelmeer ertrunken. "Das entspricht 50 abgestürzten Passagierflugzeugen", sagt Simon Robins vom Centre for Applied Human Rights an der Universität York, der mit der IOM zusammenarbeitet; man solle sich die öffentliche Aufmerksamkeit vorstellen, die ein solches Szenario auf sich zöge. Mehr als 200 weitere Menschen sind im selben Zeitraum innerhalb Europas bei der Flucht gestorben - darunter sind die 71, die im August 2015 in einem Kühlwagen in Österreich erstickten, und mindestens 27, die in der Gegend um das französische Calais starben.

Die Behörden sollen mehr tun, um die Toten zu identifizieren, fordert die Organisation für Migration

Weltweit hat das "Missing Migrants Project" der IOM von Januar bis Juni 3105 Menschen gezählt, die auf der Flucht gestorben oder verschwunden sind. Auch das ist eine deutliche Steigerung im Vergleich zu den Vorjahren. Die realen Zahlen dürften aber ohnehin sehr viel höher liegen, weil viele Todesfälle - erst recht jene abseits des Mittelmeers - nie bekannt, geschweige denn offiziell registriert werden. Um die Datenlage zu verbessern, hat das IOM im September ein neues Analysezentrum gegründet.

Der IOM geht es aber nicht nur um trockenes Zahlenwerk. Die Behörden müssten ihr zufolge auch viel mehr tun, um die Toten zu identifizieren und ihre Familien zu informieren. So sei bis heute nur etwa die Hälfte der im Oktober 2013 vor Lampedusa Ertrunkenen identifiziert, sagt Frank Laczko. Für die Familien sei es eine "schreckliche Tragödie", nicht zu wissen, ob verschwundene Verwandte noch leben oder nicht. Wenn Menschen bei Flugzeugabstürzen, Naturkatastrophen oder anderen Unfällen sterben, würden unverzüglich die Toten gezählt und identifiziert, die Vermissten erfasst und Beweismaterial gesichert, heißt es in dem Bericht der IOM; tote Migranten sollten nicht anders behandelt werden als andere Tote, und ihre Familien sollten die selbe Unterstützung bekommen. "Wenn man eine europäisch aussehende Leiche auf den Straßen von Berlin finden würde, würde man sie auch nicht einfach in einem Loch begraben", sagt Simon Robins. Für ihn geht es dabei nicht nur um die Würde der ertrunkenen Flüchtlinge selbst. "Wir arbeiten mit den Toten, um den Lebenden zu helfen", sagt er.

Die Staaten entzögen sich hier ihrer Verantwortung, heißt es von der IOM. Die wenigen positiven Beispiele, die es gebe, kämen aus der Zivilgesellschaft oder seien einzelnen engagierten Beamten zu verdanken. Dabei könne man hier durch bessere Zusammenarbeit der beteiligten Institutionen, etwa beim Abgleich von DNA-Proben, mit "relativ bescheidenen" finanziellen und technischen Mitteln einen "dramatischen Effekt" für die Angehörigen der Toten erzielen.

© SZ vom 16.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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