Manipulationen:Was nicht in den Akten ist ...

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... ist nicht in der Welt: Nur was aufbewahrt wurde, kann später nachvollzogen werden - weswegen Urkundenunterdrückung und vor allem Strafvereitelung im Amt sehr streng geahndet werden.

Von Heribert Prantl

Das Versteck, in dem die RAF den entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer 1977 gefangen hielt, befand sich in der dritten Etage des Hochhauses Zum Renngraben 8 in Erftstadt-Liblar, südwestlich von Köln. Es lag in genau der Zone, in der es der damalige BKA-Chef Horst Herold vermutet hatte, und es entsprach den Kriterien, die er für die Rasterfahndung aufgestellt hatte.

Das war vor 40 Jahren. Schon zwei Tage nach der Entführung war ein Polizeibeamter auf die Wohnung aufmerksam geworden. Sie war von einer "Anneliese Lottmann-Bücklers" angemietet worden, sie hatte die Kaution sofort in bar bezahlt. In der Handtasche hatten sich, wie die Vermieterin berichtete, Bündel von Geldscheinen befunden. Der Polizist trug diese Erkenntnisse in seine Liste ein, schickte sie an die Kreispolizeibehörde, die sie per Sammelfernschreiben weiterleitete. Aber: Das Fernschreiben ging unterwegs verloren. Wären die Computer mit dem Namen gefüttert worden, sie hätten zahlreiche einschlägige Daten über die Frau bereitgehalten. Schleyer hätte befreit werden können.

Es war dies, bis zum Fall Anis Amri, die folgenreichste Panne der deutschen Kriminalgeschichte. Der Fehler damals war ein fahrlässiger Fehler. Die Begriffe "Panne" und "Fahrlässigkeit" beschreiben indes das polizeiliche Fehlverhalten im Fall Amri nicht. Es ist bezeichnend, dass es gerade in diesem Fall zu einer gezielten Aktenvernichtung gekommen ist; auf diese Weise sollten offenkundige polizeiliche Fehler vertuscht werden - nach dem alten Motto: Quod non est in actis, non est in mundo, was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt. Der Satz, der sich auf papierene Akten bezog, galt bis zum Beginn des Computerzeitalters. Bis dahin war es einigermaßen leicht möglich, Akten verschwinden zu lassen. Der Täter zog die einschlägige Karteikarte aus dem Karteikasten und ließ die Akte, zu der die Karteikarte führte, verschwinden. Heute ist das schwieriger, weil jede Akte, so sie nicht ohnehin elektronisch geführt wird, elektronische Spuren hinterlässt, die nicht so einfach getilgt werden können.

Das Verfahren wegen der sogenannten Bundeslöschtage wurde eingestellt

Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt: Das ist aber nicht nur eine rechtliche Maxime, das ist eine archivalische Wahrheit. Was nicht in den Akten ist, ob in papierenen oder elektronischen Akten - das kann nicht aufbewahrt, nicht gesichert, nicht gespeichert werden. Es kann dann nicht mehr nachvollzogen werden, auf welcher Grundlage welche Entscheidungen oder Fehlentscheidungen getroffen worden sind.

Es gibt sehr wohl ein öffentliches Bewusstsein dafür, dass dies wichtig ist und warum. Als im Jahr 2012 ruchbar wurde, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz Akten über den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) vernichtet wurden, reagierte die Öffentlichkeit zornig und empört. Es gab wilde Spekulationen. Der Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz in Köln und die Verfassungsschutzchefin von Berlin mussten zurücktreten. Der Verband deutscher Archivarinnen und Archivare protestierte heftig gegen die Aktenschredderei, sprach von einem "Schlag gegen die Transparenz öffentlichen Handelns" - und erstattete Strafanzeige. Mit Recht: Wer als Amtsperson unrechtmäßig wichtige Schriftstücke zerstört, muss wegen Verwahrungsbruch mit Gefängnis oder einer Geldstrafe rechnen. Aber die Staatsanwaltschaft Köln blieb hinter dem öffentlichen Bewusstsein und der Kritik der Archivare weit zurück und stellte die Ermittlungen ein mit einer abwimmelnden Begründung. Das Archivgesetz und die Pflichten zur Aufbewahrung kommen in dieser Einstellungsbegründung mit keiner Silbe vor. Auf Nachfrage erklärte der zuständige Staatsanwalt: "Das historische Interesse tritt hier zurück hinter die Praxiswirklichkeit."

Das war offenbar auch die Haltung der Staatsanwaltschaft Bonn nach dem Regierungswechsel von 1998 gewesen: Die Ermittlungen wegen Akten- und Datenvernichtung am Ende der Regierung Kohl - es hatte sie wohl gegeben, aber über den Umfang gab es nie Klarheit - wurden damals eingestellt. In der Öffentlichkeit erhielt die Aktion den Namen "Bundeslöschtage".

Im Ermittlungs- und Strafverfahren hat das Verschwindenlassen von Akten oder Aktenteilen eine besondere Qualität: Es geht dann nicht nur um Verstöße gegen Archivvorschriften, auch nicht nur um Verwahrungsbruch (Geldstrafe oder Haftstrafe bis zu zwei Jahren) oder Urkundenunterdrückung (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren) - sondern um Strafvereitelung im Amt, wenn wie im Fall Amri Polizeibeamte die mutmaßlichen Täter sind. Hier gibt es keine Geldstrafe, sondern nur eine Haftstrafe; das Mindestmaß liegt bei sechs Monaten, der Strafrahmen reicht bis zu fünf Jahren Haft. Hansjörg Geiger, Ex-Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz und des BND, bezweifelte im Gespräch mit der SZ, ob es seit der NSU-Aktenschredderei wirklich einen umfassenden Bewusstseinswandel in den Behörden gegeben habe.

© SZ vom 19.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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