Kriminalität:Die Räuber

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Lässt ein Fahrraddiebstahl ein altes Italien-Klischee aufleben?

Von Oliver Meiler

In Castel Volturno, einem Badeort am Golf von Gaeta bei Neapel, ist vor einigen Tagen ein Fahrrad gestohlen worden - ein robustes und staubiges, an dem vier grellgrüne Taschen hingen. Der Besitzer hatte es an einen schattigen Platz am Strand gestellt, mit gutem Grund: In einer Tasche war Mozzarella, und Mozzarella aus der umliegenden Region Caserta ist nun mal der beste der Welt. Der Mann sprang ins Wasser, schwamm fünf Minuten, kam zurück, und das Rad war weg. Das kann einem überall passieren. Doch dass es in diesem spezifischen Fall ausgerechnet in Italien passierte, bei Neapel noch dazu, wirkt wie die ultimative Festigung eines Gemeinplatzes - wie die Kirsche auf dem Klischee gewissermaßen.

Der Bestohlene, ein junger Arzt aus Frankreich, hatte nämlich gerade die halbe Welt auf seinem Rad mit den grünen Taschen umfahren. Etienne Godard war damit in China und Indonesien, er durchquerte Indien und die Türkei. 15 000 Kilometer insgesamt, in elf Monaten. Er reiste nicht allein, seine Verlobte war dabei. Sie übernachteten, wo es gerade ging. Mal zu Hause bei Leuten, die sie über "Warmshowers" fanden, einem Portal für reisende Radler, mal im Zelt, das sie mitführten. Man darf annehmen, dass sie neben Schönem und Aufregendem auch viel Wunderliches erlebten, vielleicht dann und wann auch Bedrohliches. Godard nannte die Reise das "Abenteuer unseres Lebens".

Die letzte Etappe vor der Heimkehr war also Italien, ein leichtes Auspedalieren zur schönsten Jahreszeit, wenn die milde Herbstsonne noch ein letztes Mal zum Bad im Meer verführt. Am Strand der Baia Verde etwa, zur Mittagszeit, sorglos. Der Dieb trug auch das Handy, den Computer und die Kamera weg, auf denen das Paar die Bilder und Filme ihres großen Abenteuers gespeichert hatten - für sich und für die daheim, die dann wohl zu langen Diaabenden eingeladen worden wären. Mit der Hilfe eines italienischen Freundes postete Godard einen Appell auf Facebook. Man möge ihm doch helfen, schrieb er, wenigstens den Inhalt der grünen Taschen zu finden, der habe einen immensen sentimentalen Wert. "Ich biete einen großzügigen Lohn."

Vom Rad? Bisher keine Spur. Doch in Castel Volturno sammeln sie nun Geld, um Godard ein neues und besonders schönes Gefährt zu kaufen, für 7000 Euro. Sobald genug zusammen ist, will der Bürgermeister den Bestohlenen einladen. "Im Namen der Stadt" wird er ihn um Verzeihung bitten. Kollektiv, als Versuch der Ehrenrettung. Zur Zeremonie wird der Bürgermeister dann vermutlich die trikolore Schärpe tragen. In den Zeitungen La Stampa und Corriere della Sera wurde der Dieb aufgefordert, das Rad sofort zurückzugeben. Die Stampa drehte für ihren Appell ein kurzes Video mit direkter Anrede: "Gib es zurück!" Der Corriere rät dem Unhold, es einfach wieder dahin zu stellen, wo er es entwendet habe - zur Not nachts, wenn er sich schäme. Es ist, als stehe der Ruf des Vaterlands auf dem Spiel, wegen eines Fahrraddiebs in Castel Volturno. Gemeinplätze sind eben auch dies: gemein.

Godard ist nun wieder in Frankreich. Sein italienischer Freund hat ihm ein Rad geliehen. Er lässt ausrichten, er habe so viel Solidarität erfahren, dass sein Herz ein bisschen in Italien geblieben sei. Zusammen mit dem Rad.

© SZ vom 12.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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