Kommunalpolitik:Reden wir über was anderes

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Flüchtlingspolitik? AfD? Kanzlerdämmerung? In Niedersachsen finden gerade 2200 Wahlkämpfe parallel statt. Die Menschen interessieren sich für mehr als nur immer Flüchtlingspolitik.

Von Thomas Hahn, Celle

Angela Merkel strahlt diese majestätische Langsamkeit aus, die über jede Party-Laune erhaben ist. Am Großen Plan in Celles Innenstadt weht rhythmische Anfeuer-Musik, wie man sie von Sportveranstaltungen kennt. Aber aus der Gasse, die durch die Menschenmenge führt, eilen keine Athleten. Sondern die Bundeskanzlerin spaziert seelenruhig zur Wahlkampf-Bühne der CDU. Sie ist gut aufgelegt. Aus einer Ecke des Platzes dringen Buh-Rufe und Pfiffe, Plakate fordern das Ende des Freihandelsabkommens mit Kanada und den USA. Angela Merkel sagt beim Small Talk am Rande: Freude an der Arbeit hält fit.

Und dann hält sie eine Rede, in der es um Zukunft und Zusammenhalt geht, um Celles ersehnte Ostumgehung, um eine bessere Altenpflege. "Menschen, die andere Menschen pflegen, gehören zu den Helden unserer Gesellschaft", sagt sie. Die Merkel-Gegner schreien weiter, aber bald liegt warmer Applaus über der Szene.

Die Kanzlerin bittet um Stimmen für die CDU und deren Oberbürgermeister-Kandidaten Jörg Nigge. Und am Ende wird nicht ein einziges Mal das Wort Flüchtlinge gefallen sein und auch nicht das Kürzel AfD.

Die Kommunalwahl in Niedersachsen an diesem Sonntag gilt vielen als weiterer Test für die Stimmung im Land. Die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern haben in dieser Hinsicht zuletzt einen tiefen Eindruck hinterlassen. Dass die CDU dort so sehr absackte und die AfD 20,8 Prozent erreichte, deuten viele als Absage an Merkels Flüchtlingspolitik. Wer weiß, was am 18. September bei den Wahlen in Berlin passiert. Und dazwischen liegt also die Mammut-Abstimmung für 6,5 Millionen Niedersachsen mit 2200 Entscheidungen zu den politischen Kräfteverhältnissen in Städten und Gemeinden. Folgt hier der nächste AfD-Triumph, weil Flüchtlinge die Kommunen belasten? Übergeht Angela Merkel die Befindlichkeiten, wenn sie dazu gar nichts sagt?

Dirk-Ulrich Mende ist unverdächtig, der Kanzlerin nach dem Mund zu reden. Er ist der Oberbürgermeister von Celle. 2008 durchbrach der SPD-Mann hier die CDU-Regentschaft. Er ist einer von 37 Verwaltungschefs, die am Sonntag auch persönlich zur Wahl stehen, und damit der Mann, den Merkel gerne durch ihren Parteifreund Nigge ersetzt sähe. Trotzdem kann er nachvollziehen, dass die Kanzlerin in Celle keine bundespolitische Debatte aufmacht. "Kommunalwahlen in einem Land wie Niedersachsen lassen sich nicht als Stimmungstest wahrnehmen", sagt er.

Fachwerkbau in Celle. Für Neubauten wird dieser Stil künftig nicht mehr zwingend vorgeschrieben. Die entschärfte Regelung soll Investoren anlocken. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Niedersachsen ist das zweitgrößte deutsche Flächenland. Es weist sehr unterschiedliche Landschaften auf: Nordseeküste, Inseln, weite ländliche Räume, Mittelgebirge. Jede Region hat ihre eigenen Herausforderungen. Wenn man übers Land an den Wahlplakaten vorbeifährt, hat man sogar den Eindruck, jedes Dorf hat sein eigenes Thema, seine eigene Wählergemeinschaft, und die Wahlbezirke sind so klein, dass die Kandidaten für die ehrenamtlichen Posten oft nicht entfernte Politiker sind, sondern Nachbarn. Allein die Stadt Celle ist in fünf Wahlbereiche gegliedert. Dabei hat sie nur 70 000 Einwohner.

In der Kommunalpolitik interessiert der konkrete Bedarf am Ort. Es geht um neue Brücken, Umgehungsstraßen, Bauvorhaben, um Dinge, die aus der Berliner Perspektive winzig aussehen, im lokalen Alltag aber riesengroß sind. Die Flüchtlingssituation empfinden viele dabei offensichtlich nicht mehr also so dringend. Im Kampf ums Rathaus in Celle spielt das Thema jedenfalls keine große Rolle.

Mendes Verwaltung musste im vergangenen Herbst auch von Freitag auf Montag eine Zeltstadt für 500 Geflüchtete aufbauen. Sie schaffte das. Die Reihen der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe schlossen sich. Die Stadt gründete eine Zuwanderungsagentur als zentrale Anlaufstelle mit qualifiziertem Bildungsangebot, richtete Sozialstationen in den Ortsteilen ein, organisierte die dezentrale Unterbringung im Stadtgebiet und gibt bis heute Dialogveranstaltungen, um Chancen und Schwierigkeiten des Zuzugs zu diskutieren.

Mende räumt ein, dass Universitätsstädte wie Hannover oder Lüneburg anfangs in größeren Raumnöten steckten. Celle hatte eine frühere britische Kaserne, die man als Flüchtlingsunterkunft nutzen konnte. Aber Mende hat den Eindruck, dass die Bürger einverstanden sind mit dem Vorgehen der Stadt. Kritik an Merkel hört man bei ihm allenfalls leise. "Ich habe nicht die Grenze aufgemacht", sagt er, aber: "Ich habe mich nicht überfordert gefühlt, ich habe mich herausgefordert gefühlt." Und der Gegenkandidat? Jörg Nigge hat bei der CDU-Wahlkampfveranstaltung kurz von innerer Sicherheit gesprochen und von den Ängsten, die man ernst nehmen müsse. Aber in seinem Programm geht das Flüchtlingsthema auf unter der Rubrik "Vielfalt".

Rechtspopulisten im Stadtrat? "Belanglos und beliebig auf jede andere Stadt kopierbar."

Celler Themen drehen sich um Verkehrsprojekte, den Leerstand in der Innenstadt, die Wirtschaftskraft. Celle ist so hoch verschuldet wie wenige andere Städte in Niedersachsen. Die Erdöl- und Erdgas-Industrie, von der die Stadt abhängig ist, hat keine gute Zeit wegen des niedrigen Erdölpreises, des Russland-Embargos, des Fracking-Verbots. Und Mende treibt die Struktur der kommunalen Finanzverteilung um, die zu stark zulasten einer selbständigen Kreisstadt wie Celle gehe. Er wäre für eine gesplittete Kreisumlage. Nigge plädiert dafür, Aufgaben an den Landkreis abzutreten. Und er beklagt, Mende habe "in den letzten sieben Jahren weitere 60 Millionen Euro Schulden" gemacht. "Das stimmt", sagt Mende, "aber das Vermögen der Stadt hat sich auch um 30 Millionen verbessert." Man spürt: Celle ist gerade mehr mit sich als mit der Bundespolitik beschäftigt.

Aber natürlich ist die AfD da. Ihr Wesen, das zwischen ökonomischer Strenge und menschenrechtsfeindlicher Parolen-Politik schwankt, gehört ja im Grunde auch schon zum Establishment. Mit Interesse hat Mende Hessens Kommunalwahlen im März verfolgt. Damals war die Flüchtlingslage noch akut. Er sah "große Stimmengewinne" der AfD: "Das ist heute in einer etwas unaufgeregteren Zeit so nicht mehr möglich." Trotzdem rechnet Mende mit einem AfD-Mitglied im nächsten Stadtrat. Dessen Positionen? "Belanglos und beliebig auf jede andere Stadt kopierbar."

Thomas Ehrhorn, der Vorsitzende des AfD-Kreisverbands Celle, sieht das natürlich anders und verweist auf das online verfügbare elfseitige Kreiswahlprogramm. Ehrhorns online verfügbarer Wahlaufruf dreht sich allerdings vor allem um Sabotageakte gegen Plakate, Stände und Wahlveranstaltungen seiner Partei. "Wir sind hier einer großen Anzahl von Repressionen ausgesetzt", sagt Ehrhorn. Aber nicht nur wegen dieser Straftaten stellt er fest, dass die AfD in Niedersachsen schlechter ankommt als in den neuen Bundesländern. Für Ehrhorn hat das damit zu tun, dass die Menschen, die im autoritären DDR-Staat groß geworden sind, ein feineres Gespür für die Willkür von Obrigkeiten hätten.

Vielleicht hat es aber auch damit zu tun, dass Menschen, die in einer freien Gesellschaft aufgewachsen sind, ein feineres Gespür für die populistischen Entgleisungen von AfD-Rednern haben. Der Kommunalwahlkampf von Niedersachsen zeichnet jedenfalls ein ziemlich buntes Stimmungsbild im Land. Die Leute hier haben noch was anderes zu tun, als sich die Angst vor der Zuwanderung einreden zu lassen.

© SZ vom 09.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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