Kolumne:Zuvorkommen

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In Äthiopien und anderen Ländern Ostafrikas droht eine epochale Hungersnot. Die internationale Gemeinschaft darf jetzt nicht alte Fehler wiederholen, sondern muss handeln.

Von Carolin Emcke

Unser ganzes Leben ist darauf gegründet, Ereignissen zuvorzukommen", heißt es in den "Cahiers", den "Denkheften" des französischen Philosophen Paul Valéry. Er ergänzt: "Die meisten Ereignisse sind Vorwegnahmen anderer Ereignisse, oder Teile dieser Ereignisse." Ein Beispiel für diese Sorte Ereignis, das andere Ereignisse vorwegnimmt, ist die Entscheidung des "World Food Programme" (WFP) der Vereinten Nationen im Jahr 2015, die monatlichen Zuschüsse zu den Lebensmittelkarten für syrische Flüchtlinge zu kürzen. Konnte eine Flüchtlingsfamilie im Sommer 2014 noch Nahrungsmittel und Hygieneartikel im Wert von rund 25 Dollar pro Mitglied mit ihrer Karte beziehen, war es ein Jahr später nur noch die Hälfte. Dieses Ereignis war wiederum nur die Folge eines anderen Ereignisses, nämlich der mangelnden Spendenbereitschaft internationaler Geber, die trotz eindringlicher Bitten des WFP das nötige Geld nicht aufbrachten und so das Budget immer weiter sinken ließen - bis eben die Unterstützung für syrische Flüchtlinge gekürzt werden musste. Erst um ein Drittel, dann noch einmal bis auf erbärmliche zwölf Dollar im Monat.

Die Ereignisse danach sind bekannt: Statt zu verhungern, wagten syrische Familien zu Hunderttausenden den Aufbruch nach Europa. Anschließend waren sich alle einig, dass es günstiger gewesen wäre, dieser verzweifelten Fluchtbewegung zuvorzukommen. Alle waren sich auch einig, dass dieses Ereignis hätte antizipiert und vermieden werden können, wenn die Hinweise des WFP auf die drohende Katastrophe ernst genommen worden wäre. Bundeskanzlerin Angela Merkel gestand bemerkenswert zerknirscht ein: "Hier haben wir alle miteinander - und ich schließe mich da mit ein - nicht gesehen, dass die internationalen Programme nicht ausreichend finanziert waren." Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sprach gar von einem "humanitären Skandal".

Syrien als Mahnung: Erst wurde die Hilfe gekürzt, dann begann die Flucht nach Europa

Zurzeit wirkt die europäische Politik, als sei sie vor allem darauf gegründet, den Ereignissen hinterherzuhecheln: von der Bekämpfung der Fluchtursachen hin zur Bekämpfung der Fluchtfolgen. Statt vorwegzunehmen, warum und wo Menschen aus ihrer Heimat fliehen könnten (und was das womöglich mit uns zu tun hat), richtet sich der Fokus scheinbar vornehmlich darauf zu verhindern, dass diese Menschen ein europäisches Land erreichen. Als ob sich das "Wir schaffen das" in ein "Ihr schafft das möglichst nicht" verwandelt hätte. In einer Strategie des gut dotierten Outsourcing werden die innereuropäischen Aufgaben der Prüfung und eventuellen Aufnahme oder Abschiebung von Geflüchteten delegiert an außereuropäische Länder, deren Status nolens volens als sicher deklariert werden muss. Die Grenzen Europas verlaufen seither kurioserweise jenseits der Grenzen von Europa.

Nun allerdings droht eine Wiederholung des Szenarios der Krise vor der Krise, und es stellt sich die Frage, wie viel die internationale Gemeinschaft gelernt hat aus der immer noch andauernden Tragödie Syriens. Wieder zeichnet sich ein Ereignis ab, das weitere Ereignisse bedingen wird, die sich schon jetzt vorwegnehmen lassen: Bereits im Dezember letzten Jahres informierte das "Famine Early Warning Systems Network" über die drohende humanitäre Katastrophe in Ostafrika, insbesondere in Äthiopien und Eritrea, die von der schlimmsten Dürre seit fünfzig Jahren betroffen sind. Angesichts der eskalierenden Not entschloss sich die äthiopische Regierung im Januar, um internationale Unterstützung zu bitten. Sprach die äthiopische Regierung noch von zehn Millionen Menschen, die akute Lebensmittelhilfe bräuchten, kalkulierte das "Famine Early Warning Systems Network" schon mit 15 Millionen. Bei der historischen Hungersnot der Jahre 1984 und 1985 starben in Ostafrika schätzungsweise eine halbe Million Menschen. Äthiopische Farmer, die diese Katastrophe überlebt haben, bezeichnen die derzeitige Dürre schon jetzt als weitaus schlimmer als alle vergangenen. Nach einer Reise in die östliche Region Äthiopiens Anfang April erklärte eine Sprecherin von "Catholic Relief Services": "Die Landschaft sieht apokalyptisch aus - alles Staub und Steine. Überall liegen tote Rinder zwischen Kakteen. Es gibt mehr tote Tiere, als die Hyänen verzehren können." Und das ist nur Äthiopien.

Im Nachbarstaat Eritrea deutet alles auf eine ähnlich dramatische Situation hin - allerdings gibt es im autokratisch regierten Eritrea wenig unabhängige Quellen, die über die Lage ungeschönt informieren könnten. Aber schon jetzt stammt ein Drittel aller Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen versuchen, aus Eritrea. Es werden mehr werden. Nicht nur aus Äthiopien und Eritrea, auch aus Dschibuti, Malawi und Mosambik, wo ebenfalls wegen ausbleibender Regenfälle weite Landstriche ausgedörrt sind, werden die Menschen, die dazu physisch überhaupt noch in der Lage sind, sich aufmachen und fliehen.

Und wieder ist das WFP unterfinanziert. Und wieder bittet das WFP die internationale Gebergemeinschaft um Unterstützung. Weil das WFP nach wie vor keine festen, verbindlichen Zuschüsse erhält, ist es auf freiwillige Spenden von Staaten oder privaten Förderern angewiesen, für die es stets neu werben muss. Im Januar belief sich das Budget des Programms auf 325 Millionen Dollar, für die ersten sechs Monate des Jahres 2016 fehlten eigenen Schätzungen zufolge noch 2,6 Milliarden. Gewiss, auch akute Soforthilfe lindert nur die Folgen, nicht die Ursachen der Hungersnot. Gewiss birgt auch jedes internationale Programm die Gefahr, die existierenden lokalen Netzwerke zu beschädigen. Jeder internationale Einsatz sollte sich bemühen, die Strukturen vor Ort mit einzubinden und zu stützen. Aber wenn sich die Ereignisse vom letzten Sommer nicht wiederholen sollen, wenn nicht wieder der humanitäre Skandal beklagt werden soll, nachdem er geschehen ist, wenn nicht wieder die Grenzen Europas verrückt werden sollen, damit andere Länder sich um Geflüchtete kümmern, dann muss jetzt gehandelt werden.

© SZ vom 16.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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