Kolumne:Im Krieg

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Bei Militäreinsätzen scheint zu gelten: Je aufgeladener die Begründung, desto entgrenzter die Gewalt.

Von Carolin Emcke

Als der Angriff auf das Krankenhaus begann, operierte ein Ärzte-Team gerade in einem der Räume im vorderen Gebäudeteil. Drei Patienten, die am Abend operiert worden waren, lagen im Aufwachraum, sechs weitere befanden sich auf der Intensivstation. Wegen der Kämpfe in der Stadt Kundus hatten viele der afghanischen Mitarbeiter nicht nach Hause gehen können, sondern waren im Krankenhaus geblieben. Obgleich die Klinik eine Obergrenze von 92 Betten vorsah, war seit Ausbruch der Gefechte die Kapazität auf 105 Patienten erhöht worden. Um die vielen Verletzten behandeln zu können, hatte "Ärzte ohne Grenzen" Betten in den Fluren, in Operationssälen, in jeder freien Fläche aufstellen müssen.

"Anstatt in einem Krankenhaus geheilt zu werden, starben sie in einem Krankenhaus"

Als die erste Bombe fiel, nachts um 2.08 Uhr, kontaktierte die Projektleitung aus Kundus die Zentrale in Kabul, die wiederum afghanische Behörden und die Regierung in Washington informierte und aufforderte, umgehend die Angriffe einzustellen. Aber sie gingen weiter. Alle zehn bis fünfzehn Minuten wurde das Krankenhaus bombardiert. Eine Stunde lang. Bis nachts um 3.15 Uhr. Am Ende waren drei Ärzte, vier Krankenschwestern, zwei Wachen, eine Reinigungskraft, ein Pharmazeutiker, ein Angehörigen-Betreuer und zehn Patienten tot. "Alle diese Patienten wurden in ihren Betten bomdardiert", sagte Mathilde Berthelot, Operations Manager von "Ärzte ohne Grenzen" in Pakistan in einem Interview mit der pakistanischen Zeitung Dawn, "anstatt in einem Krankenhaus geheilt zu werden, starben sie in einem Krankenhaus".

Bis heute gibt es keine Aufklärung darüber, warum das bestausgerüstete Spital im ganzen Nordosten Afghanistans bombardiert wurde. Die Erklärungen des Oberkommandierenden der amerikanischen und der Nato-Truppen in Afghanistan, General John Campbell, widersprechen sich, wer sich wegen angeblicher Gefechte mit Taliban in Gefahr befunden und wer wen zu wessen Hilfe gerufen haben soll. Letztlich zweitrangige Fragen: Denn die Klinik in Kundus war, wie jede von "Ärzte ohne Grenzen" betriebene Klinik weltweit, eine strikt waffenfreie Zone. Und es gibt bislang kein Indiz dafür, dass sich in dieser Nacht jemand bewaffnet in das abgeschlossene Gelände geschmuggelt und von dort aus geschossen haben könnte. Die Koordinaten der Lage des Krankenhauses waren bekannt, die Bombardierung hätte nicht nur früher gestoppt werden müssen, sie hätte nicht angeordnet werden dürfen.

"Ein Krieg wird immer zweimal bewertet", schrieb der Philosoph Michael Walzer

Der Angriff ist gerade einmal zwei Wochen her und wenige scheren sich noch darum. Vielleicht weil Afghanistan ohnehin schon abgeschrieben ist. Vielleicht weil niemand mehr etwas anderes erwartet von einem Krieg, der bereits so lange dauert, dass die Konturen der ursprünglichen Absichten und Versprechen längst abgeschliffen wurden. Vielleicht weil es zur Gewohnheit geworden ist, dass bei militärischen Interventionen, die zur "Stabilisierung" beitragen wollen oder das zumindest behaupten und bei angeblich präzisen Drohnenangriffen Tausende Zivilisten getötet werden: mal eine Hochzeitsfeier in Jemen oder Pakistan, an der kein Al-Qaeda-Kommandant teilnahm, mal ein Privathaus in Mossul im Irak, das sich neben einem leeren Lagerhaus befand, aus dem die Milizionäre des IS schon Monate zuvor ausgezogen waren, mal ein Krankenhaus, in dem es keine bewaffneten Taliban gab.

"Ein Krieg wird immer zweimal bewertet", schrieb der amerikanische Philosoph Michael Walzer in seinem berühmten "Just and Unjust Wars" von 1977, "erst mit Hinblick auf die Gründe, in einen Krieg zu ziehen und zweitens mit Hinblick auf die eingesetzten Mittel". Das eine Urteil ist adjektivisch (ein Krieg ist gerecht oder ungerecht), das andere Urteil ist adverbial (ein Krieg wird gerecht oder ungerecht geführt). Paradoxerweise hat im vergangenen Jahrzehnt die hypertrophe Moralisierung der Rechtfertigung zum Krieg zu einer nahezu vollständigen Anästhesierung aller moralischen Erwartungen an die Art der Kriegsführung geführt. Ob es das Versprechen der Befreiung von einem Diktator (Libyen, Irak) war oder das der Demokratisierung durch nationbuildung (Afghanistan, Irak) war, je aufgeladener die Begründung für den Krieg, desto entgrenzter die Gewalt, die sie freisetzte.

Gewiss, wer kennt das nicht, diese Scham des passiven Zuschauens? Die schuldhafte Rolle des Zeugen, der dem Leid der anderen tatenlos zusieht? Gewiss, es gibt legitime Gründe, einen Krieg zu beginnen. Aber das allein ist nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung. Zu den Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit eine militärische Intervention gerechtfertigt sein kann, gehört nach der "International Commission on Intervention and State Sovereignty" (ICISS) eben nicht allein die Schwelle des trifftigen Grunds (Völkermord, "ethnische Säuberung"), auch wenn es mittlerweile allzu gern darauf verkürzt wird. Es werden auch angemessene Mittel, vernünftige Perspektiven und nicht zuletzt operative Standards gebraucht (unter anderem: Einheit des Kommandos und unmissverständliche Befehlsketten). Spätestens seit Präsident Obamas Ankündigung von dieser Woche, den Truppenabzug aus Afghanistan zu verlängern, muss nach vernünftigen Perspektiven gefragt werden. Und spätestens seit dem Folter-Skandal von Abu Ghraib ist deutlich, wie extensives Outsourcing von militärischen Operationen an private Firmen nicht nur zu missverständlichen Befehlsketten, sondern auch zu systematischer Folter und Entrechtlichung der Sicherheitspolitik führen kann.

Wer sich sorgt über die Zahl der Geflüchteten, die in diesen Tagen nach Europa kommen, wer von der Bekämpfung der Fluchtursachen spricht, der sollte sich vergegenwärtigen, dass zu den Fluchtursachen eben jene Kriege gehören, die angeblich gerecht waren, aber weder gerecht geführt wurden noch - rein instrumentell betrachtet - erfolgreich waren. Es geht nicht allein darum, ob sich ein Krieg moralisch begründen (oder kritisieren) lässt, sondern auch darum, ob sich ein Krieg gewinnen lässt und in wessen Namen.

© SZ vom 17.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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