Kolumne:Goldener Zugang

Frei

Die Bundesbildungsministerin will weg vom Buch. Via "Open Access" sollen die Früchte deutschen Forschergeists in aller Welt digital und gratis greifbar sein. Ein zweifelhaftes Projekt.

Von Norbert Frei

Man braucht vielleicht eine Brille. Aber um ein Buch zu lesen, braucht man weder Steckdose noch Akku, und schneller aufgeschlagen als ein Tablet ist es meistens auch. Was die Haltbarkeit betrifft, so genügt der Hinweis auf die Gutenberg-Bibel von 1452: Ein Drittel der damaligen Auflage (180 Exemplare) existiert noch immer, und für die Lektüre der Folianten bedarf es keiner Software-Aktualisierung. Wie das in 564 Jahren mit PDFs und anderen Digitalisaten aussehen wird - wir werden es nicht erfahren. Ein paar Zweifel scheinen angebracht zu sein.

Auch vor diesem Hintergrund staunt man über die Kühnheit eines unlängst verkündeten Fortschrittsdekrets aus dem Hause von Johanna Wanka, der für den Fortschritt zuständigen Bundesministerin für Forschung und Technologie: "Open Access" wird dort ab sofort "fester Bestandteil jeder Förderung". Wessen Forschung durch das BMBF finanziert wird, der muss seine Ergebnisse künftig online stellen - oder für sich behalten. Das Buch jedenfalls ist keine Option.

In einem Interview, das wohl der Popularisierung dieser "Strategie" dienen sollte, erinnerte sich Professor Wanka ihrer Schwierigkeiten, als Mathematikerin in der DDR an neue Fachliteratur aus dem "nichtsozialistischen Ausland" heranzukommen. Ein Lichtblick war oft nur die Leipziger Buchmesse, denn die westlichen Wissenschaftsverlage ließen ihre ausgestellten Bücher am Ende gerne zurück. So gönnerhaft soll es beim "Aufbau von Lehrstühlen für Mathematik in Afrika", den Wankas Ministerium fördert, nicht mehr zugehen: "Da wäre es doch wunderbar, wenn die Kollegen an alle wichtigen Dokumente herankommen und international vernetzt forschen könnten."

Ein Nürnberger Trichter für die digital uneinsichtigen Wissenschaftler

Die neuen Regeln sollen allerdings nicht allein für "wichtige Dokumente" gelten oder für Fachzeitschriften wie die ehrwürdigen Chemical Abstracts, die - Frau Wankas Beispiel war insofern schlecht gewählt - seit ein paar Jahren ohnehin nicht mehr gedruckt, sondern nur noch online erscheinen. Dem Ministerium geht es um einen Gezeitenwechsel, der Natur- und Geisteswissenschaften gleichermaßen erfassen soll: "Bei der Veröffentlichung von Monografien, die in vom BMBF geförderten Projekten entstehen, wird Open Access besonders begrüßt."

Wer gegen "digitale Barrieren" kämpft wie die im Untergang begriffene Piratenpartei, der applaudiert bei solchen Sätzen natürlich begeistert. "Öffentlich finanzierte Forschung gehört allen", lobte deren Kieler Landtagsfraktion die CDU-Ministerin. Doch Urheberrecht und geistiges Eigentum bedeuten nicht nur den Freibeutern an der Förde wenig. Seit 2014 schon sucht sich Baden-Württemberg "im internationalen Umgestaltungsprozess des wissenschaftlichen Publikationswesens" dadurch zu profilieren, dass es seine Hochschullehrer per Gesetz zur Zweitveröffentlichung ihrer Werke im Open Access verpflichtet. Auf Digitaldeutsch nennt man das den "Grünen Weg". (Hat aber nichts damit zu tun, dass die dortige Wissenschaftsministerin Theresia Bauer eine Grüne ist.)

Doch weder der "Grüne" noch der "Goldene Weg" - will heißen: die Erstveröffentlichung im Open Access - ist ökologisch automatisch günstiger als das herkömmliche Buch; die allgegenwärtigen Bürodrucker stehen nicht still, nur weil man auch am Bildschirm lesen kann.

Vor allem aber ist es ein Piraten-, pardon: Köhlerglaube, digitales Publizieren sei kostenlos. Tatsächlich schlagen die Universitätsbibliotheken längst Alarm angesichts explodierender Preise für Online-Publikationen, die ein paar große Wissenschaftsverlage aufgrund ihrer internationalen Marktmacht durchzusetzen vermögen. Dabei wird der Steuerzahler doppelt zur Kasse gebeten: Nicht nur sind die elektronischen Abonnements teuer; vorher bezahlen die Forschungsinstitute erst einmal viel Geld dafür, dass die Texte ihrer Mitarbeiter dort überhaupt veröffentlicht werden. Amtlich vorangetriebene Open-Access-Plattformen, das belegt eine jüngst veröffentlichte Studie, vermögen dagegen kaum etwas auszurichten.

Wohl deshalb betont Ministerin Wanka auch ausdrücklich, Open Access sei keine Strategie, um Geld zu sparen. Vielmehr gehe es darum, vorzuhalten, was angeblich 89 Prozent aller Wissenschaftlern "förderlich" dünkt. Wie weit man sich bei dieser sechs Jahre alten EU-Erhebung auch außerhalb von Labors und Großforschungseinrichtungen umgehört hat? Unter den fast 54 000 Personen, deren Stimme gezählt wurde, waren am Ende sage und schreibe 1666 Geisteswissenschaftler. Über solche Details schweigt sich das BMBF aus. Dabei weiß man auch dort - oder sollte wissen -, dass es nicht nur Disziplinen gibt, in denen einzelne "Forschungsdaten" mitunter über Nacht "geposted" werden müssen, sondern auch solche, in denen noch Bücher entstehen.

Ob das so bleibt, hängt von der politischen Bereitschaft ab, unterschiedliche Wissenschaftskulturen zu pflegen. Es hängt davon ab, ob die "große Form" - die in jahrelanger Arbeit entstandene Monografie - in ihrer Bedeutung für den Erkenntnisfortschritt in den Geisteswissenschaften weiterhin gefördert oder abgetan wird. Warum sollen junge Historikerinnen oder Germanisten noch zusammenhängende Bücher schreiben, wenn der Karriere besser gedient ist mit ein paar den Stoff zwar zerstückelnden, aber digital publizierten Aufsätzen? Und wer schreibt künftig noch die souveräne Darstellung einer historischen Epoche oder die erhellende Biografie, wenn sich die fachliche Reputation vor allem an der Zahl der zitierten Online-Artikel bemisst?

Mit Fragen wie diesen gehöre ich wohl zu jenen angeblich nur elf Prozent, die vom "Goldenen Weg" des Open Access noch nicht restlos begeistert sind. Aber Wanka weiß schon, wie man auch in unsereinem "entsprechendes Bewusstsein" weckt: durch einen "strukturierten Diskurs". Früher nannte man das den Nürnberger Trichter.

Norbert Frei, 61, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

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