Klimawandel:Große Folklore

Lesezeit: 2 min

Seit dem G-20-Gipfel herrscht in Deutschland der Eindruck vor, Kanzlerin Angela Merkel habe die Welt vor der Erderwärmung bewahrt. Das ist Unsinn. Tatsächlich stößt kein Land in Europa so viel Kohlendioxid aus wie die Bundesrepublik. Und: Es könnte noch schlimmer werden.

Von Michael Bauchmüller

Im Fernsehen laufen dieser Tage schlimme Bilder. Da hinterlässt Hurrikan Irma in der Karibik eine Schneise der Verwüstung, während in Florida Menschen vor Notunterkünften Schlange stehen. Da lässt Harvey eine Millionenstadt absaufen, während in Südasien ein heftiger Monsun mehr als 1500 Menschenleben fordert. Und Deutschland? Debattiert so kurz vor der Wahl über alles Mögliche - nur nicht über den Klimaschutz.

Schon klar: Ob ein besonders starker Wirbelsturm oder ein ungewöhnlich heftiger Monsun mit dem Klimawandel zusammenhängen, kann keiner genau wissen. Es weiß ja auch niemand, ob die deutschen Obstbäume wegen der Erderwärmung so früh blühten, dass ein später Aprilfrost vielerorts die ganze Ernte vernichtete. Ob sich der gigantische Eisberg A-68 im Juli nicht auch ohne Klimawandel aus der Antarktis gelöst hätte. Ob die Regenzeit am Horn von Afrika nicht so oder so ausgeblieben wäre, gleich mehrmals hintereinander.

Aber jeder kann wissen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Kohlendioxid-Ausstoß und Temperaturanstiegen; dass wärmere Ozeane schlimmere Unwetter gebären; dass die beste Vorsorge wäre, weniger fossile Energie zu verbrauchen, um die Erderwärmung nicht noch weiter anzuheizen. Nur redet kaum einer darüber im Wahljahr 2017. Was ist da los?

Die Deutschen wiegen sich in falscher Gewissheit. Sie glauben, das Problem sei im Griff, mehr noch: Deutschland sei schon jetzt beim Klimaschutz viel weiter als alle anderen. Paradoxerweise ist es das viel umjubelte Klimaabkommen von Paris, das viele so bequem macht. Wenn alle Staaten sich zum Kampf gegen die Erderwärmung bekennen - was kann da noch schiefgehen? De facto ist durch die Beschlüsse von Paris noch keine Tonne CO₂ weniger ausgestoßen worden. Noch nicht mal die Regeln sind klar, nach denen die Übereinkunft irgendwann wirken soll. Noch ist gar nichts im Griff.

Deutschland erzeugt mehr CO₂ als alle anderen Länder Europas

Stattdessen hat Donald Trump der deutschen Bundeskanzlerin den Gefallen getan, mit Aplomb aus dem Abkommen auszutreten. So konnte Angela Merkel als Gastgeberin eines G-20-Gipfels glänzen, indem sie den Rest der Welt auf Kurs hielt. Nichts hat der Gipfel in Hamburg für das Klima geändert - und trotzdem wirkte es so, als habe die Kanzlerin alleine die Welt gerade vor der Erderwärmung bewahrt. Die Bundesbürger durften gewiss sein, dass diese Regierung alles, wirklich alles im Kampf gegen die Erderwärmung tut. In der Klimapolitik hat diese Koalition ihr Wahlvolk erfolgreich sediert.

In Wahrheit wird nirgends in Europa so viel Kohlendioxid erzeugt wie in Deutschland. Mit viel Tamtam schmiedete die Koalition Pläne, diese Emissionen zu senken. Viel mehr als große Worte kamen nicht herum. Deutschland im Jahr 2017 ist ein Kohleland mit Klimafolklore, in dem sich große Motoren freier Fahrt sicher sein dürfen. Die Kanzlerin schwört andere Industriestaaten auf die "Dekarbonisierung" ein. Aber zu Hause verspricht sie dem Verbrennungsmotor eine lange Zukunft.

Derweil machen sich zwei Parteien auf den Weg in den Bundestag, von denen die eine, die AfD, Kohlendioxid als "Spurengas" abtut, während die andere, die FDP, ernsthaft verlangt, beim Klimaschutz "die Strategie in Richtung Marktwirtschaft" zu ändern. Die Dinge könnten nach der Wahl also tatsächlich noch schlechter werden.

Den Wahlkampf aber beherrschen Themen wie Flüchtlinge, Ungleichheit, Bildung. Keiner redet darüber, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Klimawandel und Flucht geben könnte. Dass Ungleichheit auch darin besteht, den eigenen Lebensstil über den anderer zu stellen. Oder darüber, dass die besten Schulen nichts nutzen, wenn die Welt rund um die Schulkinder im Chaos versinkt.

© SZ vom 11.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken
OK