Karlsruher Vorgaben:Wenn Richter aufräumen

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Das Verfassungsgericht fordert zwar rasch ein neues Gesetz, doch es lässt den Politikern erstaunlich viel Spielraum: Die bisher gängigen Werte dürfen noch bis 2024 verwendet werden.

Von Wolfgang Janisch

Eine Neubausiedlung in der Nähe von München. Die Grundsteuer knüpft bisher an Immobilienwerte aus dem Jahr 1964 an. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

Das Steuerrecht gilt ja gemeinhin als kompliziert, und die Grundsteuer macht da keine Ausnahme. Wer versucht, ihre Funktionsweise zu begreifen, wird auf Messzahlen und Hebesätze stoßen, auf Ertrags- oder Sachwerte. Also auf ein kompliziertes Rechenwerk, entworfen vor mehr als einem halben Jahrhundert. Es sollte eine Art Gerechtigkeitsalgorithmus sein: Man versteht nicht die Einzelheiten, aber man vertraut darauf, dass die Rechnung richtig ist. An diesem Dienstag hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Rechnung schon lange nicht mehr stimmt. Weil die schönste Formel nichts nützt, wenn man am Anfang die falschen Zahlen eingibt.

Die Grundsteuer ist also verfassungswidrig, erwartungsgemäß, muss man sagen. Spätestens nach der Karlsruher Anhörung im Januar, eigentlich aber schon Jahre zuvor, hat niemand mehr ernsthaft damit gerechnet, dass sich das derzeitige System der Erhebung noch retten ließe. Denn die Steuer basiert auf den sogenannten Einheitswerten von 1964 - in den ostdeutschen Ländern sind es sogar die Werte von 1935. Auf uralten Zahlen also, die einstmals wohl den Wert der Grundstücke und Häuser ganz solide widergespiegelt haben, inzwischen aber von grundstürzenden Entwicklungen wie Gentrifizierung oder Wiedervereinigung, von Landflucht und überheizten Immobilienmärkten vollständig aus dem Gefüge gebracht worden sind.

Man benötigt weder ein juristisches Staatsexamen noch ein Mathematik-Diplom, um zu verstehen, dass die Grundsteuer nichts anderes sein konnte als verfassungswidrig. Der Erste Senat - zuständiger Berichterstatter war Michael Eichberger - machte das mit vielen plastischen Beispielen deutlich. Zentralheizung, Warmwasserversorgung, Isolierglas: All dies war 1964 noch Ausweis einer höherwertigen Wohnung; heute ist es Standard. Oder die Kluft zwischen City und Randlage: Damals, keine zwei Jahrzehnte nach dem Krieg, konnte man kaum ahnen, in welche schwindelerregenden Höhen die Preise in den Innenstädten emporschießen würden - bei gleichzeitigem Leerstand in der Provinz. Das Bewertungsverfahren orientiert sich indes noch vielfach an der 1964 üblichen Miete, obwohl mehr als die Hälfte der Gebäude später gebaut wurde. "Die Besteuerung entfernt sich immer weiter von den aktuellen, realen Verhältnissen", sagte Vizepräsident Ferdinand Kirchhof bei der Urteilsverkündung.

Seit den Siebzigerjahren haben sämtliche Regierungskoalitionen die Sache schleifen lassen

Man kann das Urteil deshalb auch so zusammenfassen: Weil der Gesetzgeber jahrzehntelang die Hände in den Schoß gelegt hat, anstatt die Einheitswerte - wie 1964 versprochen - im Sechs-Jahres-Rhythmus zu aktualisieren, hat die ganze Republik verfassungswidrige Steuern gezahlt. Denn die Grundsteuer betrifft mehr als 35 Millionen Grundstücke, im Grunde zahlen alle. Die Eigentümer, weil ihnen das Grundstück gehört, die Mieter, weil die Steuer oft auf sie umgelegt wird. In der Anhörung im Januar hatte die Bundesregierung dem Gericht zwar noch weismachen wollen, mit der Untätigkeit habe man in Wahrheit einen Plan verfolgt - weg von der ursprünglichen Besteuerung nach Verkehrswert, hin zu einem irgendwie anderen, aber immer noch halbwegs stimmigen System. Doch für das Gericht war offenkundig, dass sämtliche Regierungskoalitionen - von sozialliberal in den 1970er-Jahren über Schwarz-Gelb und Rot-Grün bis hin zu Merkel I bis IV - die Sache haben schleifen lassen, weil sie den herkulischen Aufwand für eine fortlaufende Aktualisierung der Immobilienwerte gescheut haben. Und zwar sehenden Auges: Schon 1987 bekannte die Bundesregierung in einer Stellungnahme an das Gericht, "dass die gegenwärtig noch geltenden Einheitswerte des Grundbesitzes durch zeitnahe Werte ersetzt werden müssten" - sie bereite deshalb eine neue Bewertung vor. Dabei blieb es dann.

Was sich für den Steuerzahler ändern wird, ist nicht wirklich vorhersehbar

Das ist Verfassungswidrigkeit aus Trägheit, wenn man so will. Nach dieser Vorgeschichte ist es deshalb erstaunlich, welch großzügige Fristen das Gericht dem Gesetzgeber gleichwohl zugesteht. Zwar muss das neue Gesetz Ende nächsten Jahres stehen, aber die grundgesetzwidrigen Werte dürfen bis Ende 2024 weiterverwendet werden, um den großen bürokratischen Aufwand einer Neubewertung stemmen zu können. Das wären dann exakt 23 Jahre Verfassungswidrigkeit - den Beginn des Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz hat das Gericht auf Anfang 2002 datiert. Das ist in der Geschichte ohne Beispiel.

Warum legt das Gericht eine solche Nonchalance an den Tag? Der wichtigste Grund dürfte sein: Hätte man eine kurze Frist gesetzt, dann wäre damit wohl die Vorentscheidung für ein möglichst schlankes Reformmodell gefallen, etwa für eine Bodensteuer (siehe "Was das kostet..."). Aufwendigere Konzepte, die eine Ermittlung der Immobilienwerte erfordern, wären unter so einem großen Zeitdruck nicht umsetzbar gewesen. Anders ausgedrückt: Karlsruhe will dem Gesetzgeber alle Optionen lassen - damit es hinterher nicht heißt, man habe sich zum Ersatzgesetzgeber aufgeschwungen. Zweites Motiv: Man will die Kommunen nicht im Regen stehen lassen. Für sie ist die konjunkturunabhängige Grundsteuer eine der verlässlichsten Größen im Haushalt.

Was sich für die Steuerzahler in dieser fernen Zukunft ändern wird, ist damit nicht wirklich vorhersehbar. Zwar gelten die Immobilien nach dem derzeit praktizierten Verfahren generell als zu gering bewertet. Aber ob und wie die Steuer steigen wird, hängt von der politischen Entscheidung für ein bestimmtes Modell ab - und letztlich auch von den Hebesätzen, die von den Kommunen seit Jahren stetig erhöht werden. Berlin zum Beispiel rangiert am oberen Ende der Skala. Derzeit liegt der Gesamterlös der Steuer bei etwa 14 Milliarden Euro. Erklärtes Ziel der Länder ist es, dass eine Reform aufkommensneutral sein soll. Es könnte also zu Verschiebungen kommen; womöglich werden Eigenheime höher besteuert, mag sein, dass es Brachflächen trifft, oder vielleicht werden doch Neuinvestitionen höher veranlagt. Hessens Finanzminister Thomas Schäfer hat dazu einen treffenden Satz gesagt: "Es gibt nach meiner Wahrnehmung ohnehin kein Grundsteuerreformmodell, das alle glücklich macht."

© SZ vom 11.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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