Karlsruher Urteil zu Anleihenkauf:Geradegerückt

Lesezeit: 3 min

Die Verfassungsrichter in Karlsruhe bestätigen die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank. Auf die Kontrolle der Banker verzichten wollen sie trotzdem nicht.

Von Wolfgang Janisch

Es ist üblich geworden, dass die Senatsvorsitzenden des Bundesverfassungsgerichts - bevor sie die komplizierten Urteilsgründe verlesen - eine medientaugliche Zusammenfassung vortragen. Das Urteil in der Nussschale sozusagen, allgemein verständlich zusammengefasst. Andreas Voßkuhle hat es in dieser Disziplin zu einer gewissen Meisterschaft gebracht, normalerweise gelingen dem Gerichtspräsidenten prägnante Formeln mit hoher Zitierquote. Dieses Mal allerdings klang der zentrale Satz nach einer Deutungshilfe für Kommentatoren, und er geriet ziemlich pathetisch: "Die Europäische Rechtsgemeinschaft ist aus diesem Verfahren gestärkt hervorgegangen."

Da schwang ein wenig Emotion mit, die nachvollziehbar wird, wenn man sich Voßkuhles Karlsruher Zeit ansieht. Seit acht Jahren gehört er dem Gericht an, seit sechs Jahren ist er dessen Präsident, und sein zentrales Thema war von Beginn an Europa, der Vertrag von Lissabon, die Euro-Rettungsschirme, die EZB. Die Demokratie sollte in der fortschreitenden Integration nicht unter die Räder kommen, das Grundgesetz nicht geschliffen werden - und vor allem: Das Bundesverfassungsgericht sollte auch in Europa seine Kontrollfunktion behalten. Und nun, im Urteil zu den Befugnissen der Europäischen Zentralbank und Mario Draghis Euro-Rettungsaktion aus dem Jahr 2012, findet sich der Satz, in dem all diese Bemühungen zusammenfließen: Die EZB, diese doch eigentlich unabhängige Hüterin über die europäische Geldpolitik, unterliegt gerichtlicher Kontrolle. Auch aus Karlsruhe. Da darf man schon mal verbal die Siegerfaust zeigen.

Nach der Ankündigung Draghis war eine Phalanx von Klägern nach Karlsruhe gezogen

Das Urteil wird so zum Schlussstein einer Rechtsprechung, mit der sich Karlsruhe - gegen allen Vorrang des EU-Rechts - immer ein allerletztes Wort vorbehalten hatte. Und zwar für den Fall, dass EU-Organe "Ultra Vires" handeln, also außerhalb der Zuständigkeiten, die ihnen die EU-Mitglieder zugewiesen haben. Das hörte sich immer arg EU-skeptisch an, folgt aber durchaus der Logik der EU-Konstruktion: Die Herren der Verträge sind die Mitgliedstaaten, folglich können deren Gerichte kontrollieren, dass sie es auch bleiben. Diese Karlsruher Linie hat unter den europäischen Verfassungsgerichten viele Anhänger gefunden. Tatsächlich hatte das Gericht damit frühzeitig eine Sorge aufgegriffen, wie sie sich nun etwa in den Ängsten der Brexit-Befürworter spiegelt, nämlich dass EU-Institutionen selbstherrlich ihren Machtbereich ausweiten, zulasten der Staaten und letztlich auf Kosten der Demokratie. Nirgends wurde das deutlicher als bei der EZB. Niemand hat sie gewählt, niemand kann sie abwählen. Diese Unabhängigkeit ist zwar für einen Währungshüter ökonomisch unabdingbar. Doch der Preis, den das Bundesverfassungsgericht gefordert und nun durchgesetzt hat, ist die gerichtliche Kontrolle - innerhalb eines ziemlich weit gesteckten Rahmens. Dass die EZB einer Kontrolle unterliegen würde, war keineswegs so selbstverständlich, wie es sich nun anhört.

Im Sommer 2012 hatte EZB-Präsident Draghi jenes ambitionierte Programm zum notfalls unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen mit dem Kürzel OMT angekündigt ("Outright Monetary Transactions"), das nie umgesetzt wurde und trotzdem Wirkung erzielte. Eine breite Phalanx von Klägern zog dagegen vor das Bundesverfassungsgericht. Der CSU-Politiker Peter Gauweiler zählte dazu und die Linksfraktion im Bundestag, zudem zwei europaskeptische Klägergruppen sowie fast 11 700 Beschwerdeführer des Vereins "Mehr Demokratie. Die EZB betreibe verbotenerweise Wirtschafts- statt Währungspolitik, lautete ihre Klage - eine Wahrnehmung, die viele Fachleute teilten. Der Zweite Senat - Berichterstatter ist Peter Huber, in Europafragen Voßkuhles Bruder im Geiste -reagierte mit einem ungewöhnlichen Schritt: Er legte den Fall dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor und gab zu Protokoll, dass die EZB mit dem OMT-Programm aus seiner Sicht die Grundlage der Europäischen Verträge verlassen habe.

Das Urteil verschärft die Vorgaben aus Luxemburg noch etwas

Der deutsch-europäische "Dialog" (Voßkuhle) der Gerichtshöfe hat nun Draghis Kaufankündigung sozusagen europarechtlich nachgehärtet. Bereits der EuGH hatte vergangenes Jahr entschieden, das OMT-Programm sei nur unter bestimmten Vorgaben zulässig. Und Karlsruhe hat diese Einschränkungen nun zum verbindlichen Katalog erklärt. Demnach dürfen Ankäufe von Staatsanleihen, die bereits gehandelt werden, nicht vorher angekündigt werden, es müssen Mindestfristen beachtet und Ankäufe auf das Notwendige begrenzt werden, zudem darf die EZB nur Titel von Staaten mit Zugang zum Anleihemarkt erwerben. Kurzum: Das Programm muss als währungspolitische Intervention konfiguriert sein - und darf nicht zur gezielten Stützung maroder Staaten werden.

Interessant ist der Karlsruher Hinweis, das Volumen der Ankäufe müsse "im Voraus begrenzt sein". Das klingt nun so gar nicht nach Draghis vollmundiger Ankündigung vom Sommer 2012 ("whatever it takes"). Der EuGH hatte das OMT-Programm so gedeutet, dass darin eine - wenngleich nicht im Voraus offengelegte - strukturelle Obergrenze enthalten sei. Das Verfassungsgericht wiederum interpretiert diese Passage des Luxemburger Urteils als verbindliche Vorgabe.

So vollzieht sich die gerichtliche Kontrolle der EZB als kunstvolles Duett der beiden Gerichtshöfe. Karlsruhe spricht zwar ziemlich unverblümt aus, der EuGH hätte gegenüber der Zentralbank deutlich kritischer sein müssen. Zugleich macht der Zweite Senat aber eine höfliche Verbeugung vor der in Europafragen vorrangigen Rechtsprechungsgewalt des EuGH: Seine Lesart der EZB-Befugnisse bewege sich jedenfalls nicht "offensichtlich" außerhalb des Kompetenzrahmens. Dabei bleibt das Bundesverfassungsgericht trotz des EuGH-Vorrangs als Co-Kontrolleur mit im Spiel, indem es die deutschen Institutionen dazu verpflichtet, sich an den Vorgaben des Urteils zu orientieren. Die Bundesbank dürfe sich an keinem darüber hinausgehenden Programm beteiligen, und Bundesregierung sowie Bundestag müssten mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln intervenieren, wenn EU-Organe die Grenzen ihrer Zuständigkeiten überschritten. Das europäische System von Checks and Balances ist also um eine Facette komplizierter geworden. Aber immerhin: Es existiert.

© SZ vom 22.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: