70 Jahre Israel:"Erst als Erwachsene haben wir verstanden, was geschehen ist"

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An einem alten Olivenbaum kann Yousef Khattab noch erkennen, wo sein Elternhaus im heutigen Migdal HaEmek stand. Der Palästinenser war fünf, als die Familie 1948 vor dem Palästinakrieg aus seinem Dorf flüchtete, das dann von Israelis zerstört wurde. (Foto: OH)

Der 75-jährige Yousef Khattab erzählt, wie er als Fünfjähriger die Flucht vor dem Palästinakrieg aus seinem Dorf erlebte.

Protokoll von Alexandra Föderl-Schmid

"Unser Haus in Mjeder wurde 1920 gebaut, das ist nur fünf Kilometer weg von hier, wo ich in Nazareth wohne. Aber jetzt ist nichts mehr zu sehen. Es sind nur zwei Kirchen stehen geblieben, eine griechisch-orthodoxe und eine katholische. Wir haben sie vor einigen Jahren renoviert. Etwa 2000 Menschen lebten in Mjeder. Unser Haus stand an der Straße Richtung Haifa, mein Vater war Bauer, wir waren fünf Kinder. Es war ein Steinhaus mit Bögen und vier Räumen. Draußen waren die Tiere: Schafe, eine Kuh und ein Pferd, das mein Vater zur Feldarbeit nutzte. Wir hatten auch Bienen. Es gab viele Bäume rund um das Haus. Ich kann mich noch erinnern, dass ich die Früchte direkt vom Baum gegessen habe. Jetzt steht nur noch ein Olivenbaum, an dem orientiere ich mich.

Ich bin sicher, dass die Erwachsenen damals etwas gespürt oder gehört haben, deshalb sind sie aufgebrochen. Allen war noch das Massaker von Deir Yasin in Erinnerung, als im April Hunderte Palästinenser von Juden ermordet wurden. Alle haben gedacht: Was dort passiert ist, kann auch mit uns geschehen. Auch wir Kinder konnten die Angst spüren, ich war damals fünf Jahre alt. Unser ganzes Dorf war in Bewegung. Es waren sehr viele Menschen, die sich einem Zug anschlossen, der sich bis Nazareth zog. Es waren sehr viele, und es war ganz früh am Morgen. An den Tag kann ich mich nicht mehr erinnern, es war Ende Mai 1948. Hinter uns haben wir immer wieder Explosionen gehört.

Den Wachen rief sie immer "Baby, Baby" zu und hat auf mich gezeigt, damit sie nicht schießen

Ich erinnere mich auch an ein Flugzeug, weil es sehr nah flog. Das verfolgt mich bis heute. Wir waren alle starr vor Angst. Meine Mutter ließ vor Schreck meine damals nur wenige Monate alte Schwester fallen. Sie hat sie hochgehoben, und dann sind wir gelaufen. Das ist eine Erinnerung, die sehe ich nach all den Jahren noch immer ganz deutlich vor mir.

Wir haben nichts mitgenommen. Meine Großmutter war mehr als 80 Jahre alt, und sie war sehr dick. Sie ist im Haus zurückgeblieben. Meine Mutter ist immer wieder zu ihr zurückgekehrt, um ihr Essen zu bringen, mich hat sie mitgenommen. Den Wachen rief sie immer "Baby, Baby" zu und hat auf mich gezeigt, damit sie nicht schießen. Auf dem Rückweg hat sie einen Topf oder andere Kleinigkeiten aus dem Haus mitgenommen. Nach zwei Wochen ist meine Großmutter gestorben.

In den ersten Tagen haben wir in einem katholischen Kloster in Jaffa Zuflucht gefunden. Wir waren viele, und es war eng und dunkel. Einige Monate später konnten wir von einem Hügel aus beobachten, wie die Häuser zerstört wurden. Ich kann mich noch an die Schreie erinnern: 'Jetzt haben sie das Haus von Yousef zerstört!' Wir haben dann ein Haus gemietet.

Erst als Erwachsene haben wir verstanden, was geschehen ist. Es gab Dörfer in der Nähe, die nicht zerstört wurden, und es gab Orte, wo sie uns weghaben wollten. Das haben sie geschafft. Entschädigung? Habe ich nie bekommen.

Ich habe 1963 am Bau gearbeitet. Zwei Monate lang musste ich dort neue Häuser errichten, wo mein Dorf gestanden hatte. Auch auf dem Platz, wo mein Haus gewesen war. Mein jüdischer Kollege wusste erst gar nichts über die Geschichte des Ortes. Damals hat man sich noch dafür interessiert, heute nicht mehr. Jetzt steht auf dem Grundstück unseres Hauses eine Grundschule. Wenn ich die Kinder sehe, dann stelle ich mir vor, hier könnten meine Enkel herumlaufen."

© SZ vom 12.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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