60 Jahre BRD:"In den Jahren des Asylstreits ist etwas zerbrochen"

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Asypolitik war in den 90er Jahren das am meisten diskutierte innenpolitische Thema: Der Historiker Ulrich Herbert zu den emotionalen Auseinandersetzungen und der Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei.

Matthias Drobinski

Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Themen Migration, Flucht und Asylpolitik.

Zu Beginn der neunziger Jahre kommt es erst im Osten, dann auch im Westen zu zahlreichen ausländerfeindlichen Übergriffen. Doch die Zivilgesellschaft zeigt Flagge. (Foto: Foto:)

SZ: Der Streit um die deutschen Asylgesetze scheint lange her zu sein.

Ulrich Herbert: Das Thema ist in der Tat aus der Wahrnehmung fast völlig verschwunden. Dabei war es in den 90er Jahren das am meisten und am heftigsten diskutierte innenpolitische Problem. Dabei sind in diesen Jahren mehr als 100 Ausländer in Deutschland ermordet worden. Solingen, Hünxe, Hoyerswerda - das haben wir weitgehend verdrängt.

SZ: Das objektive Problem, das dem Asylstreit zugrunde lag, lässt sich aber kaum bestreiten: Es kamen Hunderttausende Menschen im Jahr, was ein Land an seine Grenzen brachte.

Herbert: Sicher gab es ein Problem - ob es das Land an seine Grenzen brachte, war und ist umstritten. Richtig ist: Armut, Kriege und Bürgerkriege verursachten in den frühen 80er Jahren stark zunehmende weltweite Wanderungs- und Fluchtbewegungen, die bald auch in Deutschland gespürt wurden. Das deutsche Asylrecht aber war auf politisch Verfolgte aus den kommunistischen Diktaturen zugeschnitten, nicht auf Iraner und Kurden, Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien oder Afrika, Wirtschaftsflüchtlinge aus Russland oder Rumänien.

Die Zahl der in Deutschland lebenden Migranten stieg im Verlauf der Regierungszeit Helmut Kohls um fast drei Millionen - um mehr als 60 Prozent. Allerdings kamen die meisten Zuwanderer nicht, wie damals oft suggeriert, aus Afrika, sie kamen aus Osteuropa - vor und nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Zudem durften Asylbewerber in Deutschland nicht arbeiten und mussten auf ihr Anerkennungsverfahren oft jahrelang in Lagern und Asylbewerberheimen warten. Das stellte viele Länder und Kommunen vor erhebliche Probleme.

SZ: Sprach dennoch nicht alles dafür, das Asylrecht zu ändern?

Herbert: Darum drehte sich die politische Auseinandersetzung im Kern. Allerdings war dazu eine Grundgesetzänderung nötig, und damit war die SPD lange Jahre nicht einverstanden. Daraufhin verlagerte die Union die Debatte in den Wahlkampf 1990 und auf die Straße - mit der Folge, dass das Thema bald hoch polemisch behandelt wurde. Der Eindruck wurde erweckt, dass Deutschland von einer Flut überschwemmt werde, gegen die es Dämme zu bauen gelte. In den Boulevardzeitungen, aber auch von Politikern wurde das Bild der betrügerischen "Asylanten" gezeichnet - so schaukelte sich die Stimmung schnell auf.

Auf der anderen Seite forderten die Grünen ein "Bleiberecht für alle", was ja nicht weniger absurd war. Die Stimmung war so aufgeheizt, dass zwischen 1991 und 1995 die Asylfrage regelmäßig als das wichtigste innenpolitische Thema des wiedervereinigten Deutschland erschien. Was für eine Verzerrung der Realität! In der englischen Presse wurde das ziemlich genau gesehen: Die Ausschreitungen, hieß es dort, seien das Ergebnis einer systematischen Kampagne.

SZ: Ende 1992 fanden die schwarz-gelbe Koalition und die SPD den sogenannten Asyl-Kompromiss. Der Artikel 16 des Grundgesetzes wurde geändert, die Zahl der Flüchtlinge ging daraufhin stark zurück. War der Kompromiss ein Erfolg?

Herbert: Ja. Wirtschaftliche Zuwanderung per Asylverfahren war ein Missbrauch; insofern war die Entscheidung richtig. Sie stand allerdings im Kontext der offiziellen Linie der Bundesregierung, Deutschland sei kein Einwanderungsland, und es dürfe überhaupt keine Einwanderung geben. Das hat Integrationspolitik jeder Art jahrzehntelang verhindert und wurde erst Ende der 90er Jahre aufgelöst. Mit der Asyldebatte wurden insofern die seit Jahren ungelösten Fragen von Einwanderung und Integration verdrängt. Und die Asylkampagne hat einen hohen Preis gefordert.

SZ: Welchen Preis?

Herbert: Es wurden ja nicht nur mehr als 100 Ausländer in Deutschland ermordet, Tausende wurden angepöbelt, und drangsaliert. Mit der Folge, dass sich Ausländer, die zum Teil seit Jahrzehnten in diesem Land lebten und arbeiteten, sich hier nicht mehr sicher fühlten, sondern fremd, angefeindet und verfolgt. Die Geschichte der Gastarbeiterzuwanderung in den 60er und 70er Jahren war ja bei allen Schwierigkeiten eine Erfolgsgeschichte - auch im Vergleich zu anderen Ländern.

Durch die Asylkampagne und die Ausschreitungen und Angriffe veränderte sich das. Seither betonen vor allem die jungen Ausländer - ob aus der Türkei, aus Ex-Jugoslawien oder dem Libanon - verstärkt ihre Distanz zu Deutschland: Warum soll man in der Kultur eines Landes leben, das einen ablehnt?

SZ: Es gab auch die Lichterketten, es gab den "Aufstand der Anständigen".

Herbert: Das waren ja Reaktionen auf diese Kampagne, weil man spürte: Hier muss man etwas tun. Aber die langfristigen Auswirkungen der Asylkampagne, der Ausschreitungen, der Brandstiftungen - die wirken lange nach auf das Verhältnis von Deutschen und Ausländern. Da ist in diesen Jahren des Asylstreits etwas zerbrochen.

© SZ vom 09.05.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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