Italien:Wenn es noch schlimmer kommt

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Seehofers Pläne können Rom nicht gefallen. Dort fühlt man sich schon lange allein gelassen - und hat selbst mit dem Abschotten begonnen.

Von Oliver Meiler und Thomas Kirchner

Italien fühlt sich alleingelassen. Bedrängt im Süden und unverstanden im Norden. Eingequetscht gewissermaßen, isoliert. Aus dem Süden, vor allem aus Libyen, kommen seit Jahren Menschen in großer Zahl über das Mittelmeer und bleiben in Italien hängen, weil im Norden die Grenzen immer undurchlässiger werden. Die Pläne von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) würden sie noch undurchlässiger machen. Und sie würden letztlich wohl vor allem Italien treffen. Dort landen die meisten Flüchtlinge an, und das Transitland Österreich hat bereits die Kontrollen am Brenner verstärkt und mehrfach damit gedroht, dort ebenfalls reguläre Grenzkontrollen einzuführen. Viele Flüchtlinge würden dann schon dort zurückgewiesen. Das kann Rom nicht gefallen. In Italien fällt deshalb oft der Begriff des Dampfkochtopfs. Matteo Salvini, der neue und sehr rechte Innenminister Italiens, sagt es so: "Wir haben es satt, das Flüchtlingslager für ganz Europa zu sein."

Salvini übertreibt. Die Frequenz der Bootsankünfte hat im vergangenen Jahr stark abgenommen. Die Notlage in den Zentren ist längst nicht mehr so groß wie 2015 und 2016. Das räumt er zuweilen auch ein, allerdings nur in leisen Nebensätzen. Er lobt dann seinen Amtsvorgänger Marco Minniti, einen Sozialdemokraten, der einen kontroversen Deal mit Libyen geschlossen hatte. Als am vergangenen Wochenende das Rettungsboot Aquarius mit 629 Flüchtlingen an Bord Kurs auf Italien nahm, nutzte Salvini den Fall für einen Tabubruch: Auf sein Geheiß ordnete die Regierung eine Schließung aller italienischen Häfen an. Die Aquarius ist nun auf dem Weg nach Spanien. Dort darf sie anlegen.

Frankreich weist seit langem Flüchtlinge an der Grenze zu Italien zurück. Viele warten trotzdem auf ihre Chance, hier bei Vintimille. (Foto: Jean-Pierre Amet/Reuters)

Die neue Gangart der Italiener hat unabsehbare Folgen. Die vier übrig gebliebenen Hilfsorganisationen, die noch immer Rettungseinsätze vor der libyschen Küsten fahren, sind stark verunsichert. Die deutsche Organisation Sea Watch etwa mag im Moment keine Migranten aufnehmen, wegen der Sorge, dass sie dann keinen Zielhafen für sie finden könnten. Dreißig Seemeilen vor Libyen kreuzt in diesen Tagen die Trenton, ein Boot der US Navy, mit vierzig Flüchtlingen an Bord. Die Amerikaner hätten die Menschen gern einer NGO anvertraut, doch es ließ sich keine finden.

Mit der extremen Maßnahme der Hafenschließung hat sich Rom ins Zentrum der europäischen Debatte befördert. Zwar ohne unmittelbare Not. Aber beseelt von diesem Gefühl, schon viel zu lange alleingelassen worden zu sein von den vermeintlichen Partnern. Seehofers Vorstoß dürfte dieses Gefühl noch bestärken.

Exemplarisch ist die Fehde mit Frankreich, das Italien Zynismus vorwirft, gleichzeitig aber seit Jahren seine Grenzen in Menton und Briançon abriegelt. Die Franzosen berufen sich auf die Dublin-Regeln der EU sowie auf eine Vereinbarung mit Italien von 1997 zur Rücknahme von Einwanderern, die sich ohne Erlaubnis im jeweils anderen Land aufhalten. Die Italiener werfen ihnen dennoch vor, sie schützten ihre Grenzen mit brutaler Konsequenz. Manche Flüchtlinge versuchen ihr Glück mehrmals und werden immer wieder zurückgedrängt. Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem "menschenverachtenden Pingpong". Wie viele Menschen genau da abprallen, ist nicht klar. 2017 sollen es laut französischer Regierung landesweit 85 408 gewesen sein, etwa 50 000 von ihnen wurden nach Italien zurückgedrängt. Für das laufende Jahr nennt Salvini eine viel geringere Zahl: 10 200.

Auf eine europäische Lösung kann Italien nicht hoffen, die Lage ist verfahren

Der Innenminister rechnet jetzt mit mehr Verständnis in Europa, dank seinem Poltern. Nach Telefonaten mit seinen Amtskollegen aus Deutschland und Österreich wähnt er Rom auf einer "Achse mit Berlin und Wien". Doch fragt sich, ob er seine Kollegen auch richtig deutet. In einer Rede im Senat sagte er, alle seien einverstanden, dass die Außengrenzen besser und gemeinsam kontrolliert werden müssten. Für Salvini heißt das, dass die italienischen Grenzen im Süden, im Meer also, auf der Fluchtroute, fortan "europäische Grenzen" seien. Von strikteren Kontrollen an den Binnengrenzen war nicht die Rede.

Auf die EU kann Italien nicht hoffen. Der Plan, den Außengrenzstaaten dauerhaft zu helfen und die Lasten der Migration nach Europa auf viele Schultern zu verteilen, ist so gut wie gescheitert. 2015, auf dem Höhepunkt der Krise, hatten die Europäer ad hoc versucht, eine solche Verteilung hinzubekommen. Schon damals leisteten mittel- und osteuropäische Staaten erbitterten Widerstand, die Verteilung konnte nur über sie hinweg per Mehrheit beschlossen werden. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und andere sahen im damaligen Beschluss eine Blaupause für die Dublin-Reform. Zu Recht, denn der Vorschlag, den die Kommission bald darauf präsentierte, sah im Krisenfall verpflichtende Aufnahmequoten für jedes Land vor.

Seither wird gestritten: Quote oder nicht? Was bedeutet "Solidarität"? Lässt man zu, dass Staaten keine Flüchtlinge aufnehmen müssen und stattdessen Geld zahlen oder mehr Beamte für den Grenzschutz bereit stellen? Die EU-Innenminister sind da in zwei Jahren kaum vom Fleck gekommen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass auf dem Gipfel Ende Juni ein Durchbruch gelingt, sei "verschwindend gering", sagte ein EU-Diplomat kurz nach dem desaströs verlaufenen jüngsten Ministertreffen in Luxemburg. Erschwerend kommt hinzu, dass die 2015 beschlossene Umverteilung schlecht funktionierte. Statt der geplanten 120 000 wurden nur 33 700 Flüchtlinge von Italien und Griechenland in andere EU-Staaten gebracht. Laut Kommission sind dies aber fast alle, die dafür infrage kamen.

© SZ vom 15.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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