Italien:Im Visier des Einäugigen

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In Rom hat der Prozess gegen die Mitglieder der "Mafia Capitale" begonnen. Mit Erpressung und Korruption plünderten sie die Kassen der Stadt und steckten Hunderte Millionen Euro ein.

Von Oliver Meiler, Rom

Als sie Massimo Carminati vor einem Jahr stellten, saß der am Steuer eines Kleinwagens in einer engen Straße in der Peripherie Roms. Im Grünen. Er erhob reflexartig die Arme zur Aufgabe. Es gibt ein Video der Verhaftung, gedreht von der Polizei. Es dauert nur einige Sekunden, wirkt aber wie der Trailer eines trüben Films und wurde seither Tausende Male ausgestrahlt vom italienischen Fernsehen. Die Szene dient als Erkennungsmarke einer Affäre, die die Römer aus ihren letzten Illusionen weckte, die ihren Glauben an Leumund und Lauterkeit ihrer Obrigkeit beerdigte. Es ist die Affäre um die Hauptstadtmafia, ein Syndikat aus Funktionären und Gaunern, die "Mafia Capitale". Ein Begriff wie ein Hammer. Alles hatte man den Stadtverwaltern und ihren zugewandten Diensten zugetraut: Unfähigkeit, Sorglosigkeit, Korruption. Aber Mafia?

Carminati war ihr oberster Boss, 57 Jahre alt, eine Figur wie aus einem billigen Streifen. Der ehemalige Terrorist der neofaschistischen Nuclei Armati Rivoluzionari (Nar) trägt eine Augenklappe, seitdem er bei einer Schießerei sein linkes Auge verlor. Er sammelte, wie man unterdessen erfuhr, teure Bilder. Von Jackson Pollock und Andy Warhol, wahrscheinlich auch von Pablo Picasso. Die Ermittler fanden Kaufdokumente. Und Schmuck, den er in einem verbeulten Metallschrank auf dem Balkon seiner Schwiegereltern versteckte. Carminati ist ein Geselle aus der Zwischenwelt, wie er sie selber einmal beschrieb. "Oben sind die Lebenden, unten die Toten, und dazwischen sind wir." In Rom läuft nun der Prozess gegen 46 Angeklagte, die zu dieser Zwischenwelt gehörten, zum Kartell Carminatis. Es sind assoziierte Unternehmer, korrupte Beamte, gefällige Vorsitzende städtischer Betriebe, Lokalpolitiker, Schläger, ein gefallener Staatssekretär. Sie haben, wenn man der Staatsanwaltschaft glaubt, die Stadt zwischen 2008 und 2014 regelrecht ausgesaugt, alles untereinander aufgeteilt: städtische Lizenzen und öffentliche Bauaufträge für mehrere Hundert Millionen Euro.

Die italienischen Medien nennen das Großverfahren einen "Maxi-Processo". Dem Publikum werden sie ihn nun mit Bildern aus einer Aula im Innern des Gefängnisses von Rebibbia im Osten der Stadt servieren. Jeweils von Montag bis Donnerstag, portioniert wie eine TV-Serie. 146 Prozesstage sind schon anberaumt, vorerst bis Juli.

Nicht ausgeschlossen, dass eine zweite Staffel folgen wird, mit neuen Figuren und neuen Angeklagten. Zum Prozessauftakt ließ Massimo Carminati über seinen Anwalt ausrichten, ausnahmsweise werde er mal nicht schweigen, er habe "eine Menge Sachen" zu erzählen. Es hörte sich wie eine Drohung an.

Alles war im Geflecht. Von Müllabfuhr über Straßenbau bis zu Flüchtlingsunterkünften

In Rebibbia wurden schon andere große Fälle der turbulenten jüngeren Geschichte des Landes verhandelt: Der Prozess gegen die Roten Brigaden, jener gegen die Mitglieder der subversiven Freimaurerloge P2 und auch der zum mysteriösen Flugzeugabsturz von Ustica. Die Files über "Mafia Capitale" umfassen schon mehr als 100 000 Seiten. Und darin sind die Protokolle von 3600 Stunden abgehörter Telefonate der Bande enthalten. Die Presse hat aber bereits üppig aus diesem Beweismaterial zitiert - transkribiert im Originalton, im breiten und nur selten eleganten römischen Dialekt.

Da ist etwa die Rede von säumigen Geschmierten, die mit kruden Methoden an ihre Pflichten ermahnt gehörten. Alle möglichen Aufträge fielen dem Kartell zu, ohne dass es dafür Ausschreibungen gewinnen musste. Ein Teil des Straßenbaus und ein Teil der Müllentsorgung Roms zum Beispiel. Auch für das Wegräumen des Herbstlaubs fand sich im Geflecht der verbündeten Kooperativen eine passende Firma, die ihre Dienste dann völlig überteuert in Rechnung stellte - mit gefälschten Quittungen, einem Standardtrick.

Auftakt zum Maxi-Prozess: Ein Anwalt der insgesamt 46 Angeklagten, gegen die am Donnerstag die Hauptverhandlung in Rom begann. (Foto: Alessandro Di Meo/dpa)

Am meisten aber brachte offenbar die Unterbringung und Verpflegung von Flüchtlingen und Fahrenden ein. In einem dieser Telefongespräche hört man die Nummer zwei der Bande, den Unternehmer Salvatore Buzzi, der als Vorsitzender einer Kooperative einige Auffanglager für Flüchtlinge verwaltete, wie er zu einem Komplizen sagt, mit denen verdiene er mehr als mit dem Drogenhandel. Buzzi und der "Einäugige", wie sie Carminati nennen, werden nicht leibhaftig in Rebibbia erscheinen. Man wird sie nur per Video zuschalten. Buzzi sitzt in Nuoro auf Sardinien in einer Zelle, während Carminati im Gefängnis von Parma dem härtesten Haftregime unterzogen wird, das Italiens Strafgesetzbuch kennt, dem "41 bis". Erdacht wurde es für sizilianische, kalabrische, neapolitanische Mafiosi. Wenn nun ein römischer Bandenboss gleich behandelt wird, ist das mehr als eine technische Anekdote. Es ist ein Symbol.

Bisher war es ja so, dass man das Phänomen der Mafia in seiner organisierten, strukturierten Form nur aus den südlichen Regionen Italiens kannte: In Sizilien gibt es die Cosa Nostra, in Kalabrien die 'Ndrangheta, in Apulien die Sacra Corona Unita, in Kampanien die Camorra. Weiter nördlich gab es mehr oder weniger große Ableger dieser Organisationen.

Viele pendelten zwischen der Oberwelt und der Zwischenwelt

Wenn die Richter im "Maxi-Processo" nun zum selben Schluss gelangen sollten wie die ermittelnde Staatsanwaltschaft, nämlich dass "Mafia Capitale" in aller Form und Methodik ein Syndikat nach mafiösem Muster bildete, inklusive Erpressung und Gewaltandrohung, dann verschlechtert das nicht nur die juristische Situation der Angeklagten, sondern wahrscheinlich auch den Ruf Roms in der Welt. Er wäre dann nicht mehr viel besser als jener Palermos oder Neapels. Auch darüber wird verhandelt in der Aula von Rebibbia, zumindest im Subtext.

Rom erlebt chaotische Zeiten, Zeiten des Verfalls. Franco Gabrielli, der Präfekt Roms, nennt die Stadt "schwer krank" und befallen vom Defätismus seiner Bewohner. Vor einigen Tagen musste der Bürgermeister zurücktreten, weil er einige Restaurantrechnungen nicht dienstlich belegen konnte. Früher wäre so eine Geschichte als Bagatelle durchgegangen. Nun wird die Stadt von einem Zwangsverwalter regiert, einem "Commissario", den die Regierung geschickt hat.

Der meldete in seiner ersten Amtshandlung die Stadtverwaltung als Zivilklägerin im Prozess gegen "Mafia Capitale" an. Sie begegnet dort vielen Herrschaften, die einst zwischen der Oberwelt und der Zwischenwelt gependelt sind, zwischen dem Rathaus und der Bande Carminatis, der eigentlichen Unterwelt. In den Straßen der Stadt hängen in diesen Tagen dunkle Plakate eines Films, der soeben in den Kinos angelaufen ist. "Suburra" handelt von den Gedärmen Roms. Er basiert auf dem gleichnamigen Buch von Carlo Bonini und Giancarlo De Cataldo, das die Affäre um "Mafia Capitale" vorwegnahm. Realität und Fiktion sind mal wieder nahe beieinander. Der "Einäugige" könnte sich im Film gut selber spielen.

© SZ vom 06.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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