Italien:Der Premier und das Beben

Lesezeit: 4 min

Verwandte von Todesopfern trauern in Amatrice um ihre Angehörigen. Räumtrupps haben die Nacht durchgearbeitet, um die Zelte für die Trauerfeier aufzubauen. (Foto: Roberto Salomone/dpa)

In Italien zittert die Erde oft - und jedes Mal erschüttern die Erdstöße auch die Politik. Matteo Renzi aber gibt die Katastrophe von Amatrice die Gelegenheit, endlich wieder Kämpfer zu sein.

Von Oliver Meiler, Rom

Es hatte schon lange nicht mehr stark geregnet in Amatrice. Am Dienstagabend aber, zur Trauerfeier für die Erdbebenopfer, regnete es unablässig auf das Blechdach des Unterstands, der dem Staatsakt im Beisein aller hohen Würdenträger der Republik als Rahmen diente. Hinter dem Altar öffnete sich der Blick auf das zerstörte Dorf, die eingestürzten Dächer, die Trümmerhaufen. Der Bischof verlas zu Beginn die Namen aller Opfer von Amatrice, in alphabetischer Reihenfolge, minutenlang. 232 Namen. "Das Erdbeben tötet nicht", sagte er dann, "es sind die Werke der Menschen, die töten." Beinahe wäre ein Fauxpas passiert, eine leichtfertige Gefühllosigkeit. Der Präfekt der Region Latium hatte zunächst entschieden, dass die Trauerfeier für Amatrice in der Provinzhauptstadt Rieti stattfinden sollte, 60 Kilometer entfernt. Aus logistischen Gründen. Die Angehörigen, der Bürgermeister, der Pfarrer von Amatrice - alle waren empört. Sie würden da nicht hinfahren, sagten sie. Premier Matteo Renzi schaltete sich ein und ließ die Särge, die bereits nach Rieti gebracht worden waren, zurück nach Amatrice transportieren: "So gehört sich das", sagte er.

Mit protokollarischen Überlegungen hatte das nur am Rande zu tun. Feinfühligkeit ist in diesen Zeiten eine politische Kategorie, vielleicht die wichtigste. Gut möglich, dass Renzis politische Zukunft davon abhängt, wie seine Regierung die Folgen des Erdbebens vom 24. August bewältigt. So war das immer schon in Italien. Oft erzitterte die Politik, nachdem die Erde gebebt hatte. Und da es in jüngerer Vergangenheit ungefähr alle fünf Jahre ein schweres Beben gab, etwa in der Kadenz von Legislaturperioden also, lässt sich die politische Geschichte Italiens auch entlang der seismischen Ausschläge erzählen. Manche Regierungen stürzten nach Erdbeben. Allianzen zerbrachen, weil Geld verschwendet wurde oder in den dunklen Kanälen der Mafia versickerte. Mal lief die Hilfsoperation viel zu langsam an, mal stritt man sich über das probate Modell für den Wiederaufbau.

Nur sehr selten zeigte sich eine Regierung auf der Höhe der Aufgabe. Eigentlich nur ein einziges Mal: Friaul, 1976. 44 Dörfer wurden damals zerstört, 990 Menschen kamen um, 100 000 verloren ihr Zuhause. In Rom regierte die Democrazia Cristiana. Es war eine dramatische Zeit: Roter und schwarzer Terror zerrissen das Land. Es gab Versuche, die DC mit dem PCI, der Kommunistischen Partei Italiens, in einen historischen Kompromiss zu drängen. Die Christdemokraten fürchteten um die Gunst ihrer Wähler im Nordosten. Da scheute man keine Ausgaben, um den Dörfern zu helfen, und zwar nach dem Prinzip "Dov' erano, com' erano" - also: "Wo sie waren, wie sie waren". Die Dörfer sollten genau dort wieder auferstehen, Haus um Haus, Kirche um Kirche, wo sie früher standen. Und sie sollten wieder genau so aussehen, wie sie vor dem Erdbeben aussahen. Diesmal erdbebensicher.

Pro Obdachlosen gab der Staat im Durchschnitt 390 000 Euro aus, so viel wie nie zuvor. Trotzdem waren die Arbeiten nach 30 Jahren beendet, während etwa der Wiederaufbau nach dem Beben in Irpinia (1980) und sogar nach jenem im Tal des Flusses Belice in Sizilien (1968) bis heute nicht vollendet sind. Im Friaul wurde das ursprüngliche Setting der Dörfer treu rekonstruiert, Seele und Identität gerettet. In Sizilien und in L'Aquila (2009) wurden dagegen "New Towns" gebaut, Retortenorte ohne Seele und Identität aus dem Setzkasten von Städteplanern, in denen niemand leben mag. Im Tal des Belice etwa orientierte man sich an Ideen aus Skandinavien, die sich in der Theorie wunderbar funktional anhörten, aber halt nicht in den Süden passten. Die Italiener hängen an ihrer Scholle, mag die auch gefährdet sein.

Sogar Berlusconi-Medien loben den Regierungschef und seine Hilfsprogramme

Das Beispiel aus dem Friaul dient nun als Modell. Seit dem Beben in Amatrice wiederholt Renzi, er höre auf das Begehren der Dorfbewohner. Als früherer Bürgermeister von Florenz habe er ein lokalpolitisches Sensorium. Die Bewohner von Amatrice und Accumoli, von Arquata und Pescara del Tronto wollen in ihrer großen Mehrheit wieder genau dort und genau so leben wie früher - "dov' erano, com' erano". Natürlich soll diesmal erdbebensicher gebaut werden. Aufträge sollen nur Firmen erhalten, die auf einer "White List" stehen, auf die es nur saubere Unternehmen schaffen. Die Anti-Korruptionsbehörde soll in jeder Phase der Auftragsvergabe beteiligt sein.

Renzi sagt auch, dass es nun einen Mentalitätswandel brauche und sich die Italiener endlich schützen müssten vor den Launen ihrer Natur, vorbeugend. Er arbeitet an einem Aktionsplan für die Sanierung von prekären Bauten in allen Erdbebenzonen, einem gewaltigen Programm. Er nennt es "Casa Italia". Die Umsetzung würde Jahre dauern und seine eigene Amtszeit übersteigen. Glaubt man den Schätzungen, bräuchte es etwa 300 Milliarden Euro, um alle Gebäude im Land, private und öffentliche, erdbebensicher zu machen. Renzi sagt, für den Schutz der Italiener werde er so viel Geld in die Hand nehmen, wie es eben brauche. Der Stabilitätspakt der Europäischen Union und die rigiden Defizitvorgaben könnten ihn nicht davon abbringen.

Da ist er also wieder, der kämpferische Renzi. Der Notfall, so zynisch das erscheinen mag, bietet ihm in einem schwierigen Moment die Chance für etwas Luft. Die Umfragewerte sind gesunken, die Wirtschaft stagniert, voraussichtlich im November kommt seine Verfassungsreform vors Volk, und niemand wagt eine Prognose. Nun kann Renzi zeigen, dass er ein guter Krisenmanager ist: effizient bei der Soforthilfe, feinfühlig im Umgang mit den Angehörigen, visionär beim Nachdenken über die Zukunft.

Bisher machte er eine gute Figur, fand die richtigen Worte. Die Rettungsoperation war schnell und gut koordiniert. Selbst Il Giornale, die Zeitung der Familie Berlusconi, die sonst an Renzi gar nichts Gutes finden kann, titelte: "Forza Italia. Forza Renzi." In der bürgerlichen Presse liest man, Silvio Berlusconi überlege sich, ob er dem linken Rivalen nicht auch beim Referendum über die Verfassungsreform helfen sollte - als Beitrag zur nationalen Einheit in Zeiten der Prüfung. Als Sonderkommissar für den Wiederaufbau schlägt Renzi zudem einen parteiinternen Widersacher vor: Vasco Errani. Die Berufung wird als Versuch gedeutet, auch den linken Flügel seiner Partei wieder näher heranzuholen. Etwas Harmonie im Leid, allerdings mit ungewisser politischer Tragfestigkeit.

© SZ vom 31.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: