Italien:Der ewig Warnende

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"Nur die Dummen sind optimistisch": Krawalle bei Protesten gegen Regierungschef Matteo Renzi Anfang November in Florenz. (Foto: Maurizio Degl'Innocenti/AP)

Einer von Italiens prominentesten Verfassungsrechtlern, Gustavo Zagrebelsky kämpft gegen die Reform von Premier Matteo Renzi und wittert das Ende der Demokratie.

Von Oliver Meiler, Rom

Als Gustavo Zagrebelsky endlich an die Reihe kommt, ganz zum Schluss der Veranstaltung, und sich ans Rednerpult stellt mit seinem schwarzen Notizbuch aus Leder, das er immer mit sich herumträgt, sind viele im Teatro Vittoria schon müde vom Zuhören und langen Warten. Manche sind auch aufgebracht: "Das sollte doch eine öffentliche Debatte werden", ruft einer mit Hut aus der siebten Reihe, "und wieder redet nur ihr Intellektuellen." Es ist ein kalter, feuchter Sonntagmorgen in Rom. Und wer eigens aufgestanden ist, um bei dieser Versammlung gegen die Verfassungsreform zu Wort zu kommen, die die Zeitschrift Micro Mega im Hinblick auf das Referendum vom 4. Dezember organisiert hat, der muss enttäuscht sein. Im dichten Reigen der Reden bleibt nur Zeit für drei Fragen, die auch noch unbeantwortet bleiben. Dabei wollen sie an diesem Vormittag eigentlich etwas sehr Grundsätzliches diskutieren: Ob die geplante Verfassungsänderung von Premier Matteo Renzi die Demokratie schwächt oder nicht.

Der kleine Mann im zu groß geschnittenen Anzug ist der Star des Morgens

Doch dann redet endlich Zagrebelsky, der frühere Präsident des italienischen Verfassungsgerichts und profilierteste Gegenspieler von Renzi. Der kleine Mann im zu groß geschnittenen Anzug und mit den melancholischen Augen ist der Star des Morgens. Er versucht, den Zwischenrufer zu besänftigen: "Die Zeit ist ein Tyrann", sagt er, "haben Sie doch ein bisschen Verständnis!" Dann entfährt ihm eine Unflätigkeit: "Wenn Sie sich so gerne engagieren, dann organisieren Sie doch Ihre eigene Veranstaltung." Der Zurechtgewiesene bleibt dennoch sitzen.

Das Teatro Vittoria im Stadtteil Testaccio ist kein glamouröser Ort, obschon es den Sieg im Namen trägt und mit viel rotem Samt ausstaffiert ist. Ganz voll ist der Saal nicht, da und dort gibt es noch freie Plätze. Dabei sind alle prominenten Bedenkenträger der Republik gekommen, die Renzis Verfassungsrevision für eine Gefahr für die Demokratie halten. Für eine "Deformation" statt für eine Reform. Für den Versuch, mit einer Rückstufung des Senats das Parlament auszuhöhlen und stattdessen die Macht in den Händen einer "Oligarchie" zu konzentrieren. So reden sie. Neben Zagrebelsky, 74 Jahre alt, sind auch der Jurist Stefano Rodotà, 83, der Publizist Paolo Flores d' Arcais, 72, und der politisch engagierte Schauspieler Moni Ovadia, 70, gekommen. Ihre Glaubwürdigkeit im Kampf für das "No" gründet darauf, dass sie keine Politiker sind, sondern Persönlichkeiten ohne Ambitionen auf Ämter, die alle viel erlebt haben.

Sie saßen schon gemeinsam auf der Bühne, als es galt, vor Silvio Berlusconi zu warnen. Mit derselben Verve und demselben zivilen Engagement. Damals waren die Sporthallen voll, wenn sie zur Debatte riefen, und vor den Eingangstoren standen die Menschen Schlange. Auch viele Junge waren in jenen Jahren dabei. Nun sitzen vor allem betagte Herrschaften im Publikum, vornehme Damen mit Silberhaar und bunten Handtaschen. Ihre Gatten tragen die kommunistische Zeitung Il Manifesto unter dem Arm, oder Il Fatto Quotidiano, das Leitmedium von Beppe Grillos Protestbewegung Cinque Stelle. Aller Ärger gilt jetzt Renzi, den man im Teatro Vittoria für einen Verschnitt des Vorgängers hält, für einen "Neffen Berlusconis", für einen Befehlsempfänger im Dienst der Großbanken, der Lobbys, der dunklen Mächte im Hintergrund, kurz: für einen Verräter der Linken. Es sind konfuse Zeiten.

Renzis Entourage wiederum nennt Zagrebelsky und seine Kollegen "i vecchi", die Alten, und wirft ihnen vor, sie wollten nur bewahren, das Neue verhindern. Gestern gegen morgen, Vergangenheit gegen Zukunft. Renzi spricht gar von einem "Derby". Das ist natürlich eine arge Verkürzung der Auseinandersetzung. Doch wer hört in diesen Zeiten der schnellen Slogans und postfaktischen Wahrheiten schon zu, wenn differenziert argumentiert wird?

Auch der spröde Rechtsgelehrte Zagrebelsky, Sohn russischer Einwanderer aus Sankt Petersburg, der im Piemont geboren und aufgewachsen ist, gerät in seiner Rede immer wieder in Versuchung, seinen jungen Kontrahenten mit Häme und Ironie zu überziehen: "Nur die Dummen sind optimistisch", sagt er. Alle wissen, dass er damit den Daueroptimisten Renzi meint, und klatschen. Zagrebelsky unterbricht sie: "Wenn Ihr jetzt jedesmal klatscht, wenn ich etwas sage, werde ich nie fertig." Es scheint ihm nicht wirklich wohl zu sein in dieser Rolle des Stimmungsmachers. Zagrebelsky ist es gewohnt, mit eleganter Sprache an Universitäten und in Salons zu dozieren und dabei seine Meister zu zitieren: Dostojewski und Norberto Bobbio, Italiens großen Denker und Juristen. Das Talent zur Show ist ihm nicht gegeben.

Aber man will Zagrebelsky hier angreifend erleben, schneidend und auch etwas radikal. In dem Manifest von Libertà e Giustizia, der antifaschistischen Bewegung, deren Ehrenpräsident er ist, heißt es immerhin: "Wir wohnen gerade dem Versuch bei, unsere Verfassung über den Haufen zu werfen und ein autoritäres System zu schaffen." Zagrebelsky wirft Renzi zwar nicht direkt und persönlich vor, eine autoritäre Ader zu haben. Er hält ihn aber wohl für zu dumm, das Gefahrenpotenzial zu erkennen, das angeblich im neuen Grundgesetz lauere, weil es eine der beiden Parlamentskammern teilweise entmachte und gleichzeitig die Exekutive stärke. Das ist der Kern der Debatte, der ganze Umstand des Kulturkampfs.

Das Lager des "Sì" argumentiert, es sei endlich Zeit, das totale Zweikammersystem aufzuweichen, um den chronisch langsamen Prozess der Gesetzgebung zu beschleunigen und Italien aus dem "Morast" der politischen Instabilität zu befreien. Für die intellektuellen Wortführer des "Nein", die sich um Zagrebelsky scharen, ist die italienische Verfassung dagegen die schönste der Welt - "la più bella del mondo". Geboren im Geist des Widerstandskampfes, im Antifaschismus. Und deshalb unverhandel- und unveränderbar.

Vor einigen Wochen begegneten sich Renzi und Zagrebelsky erstmals zu einem Streitgespräch in den Studios von La 7, einem Privatfernsehsender. Zweieinhalb Stunden dauerte die Premiere, und obschon die beiden über alle Punkte der neuen Verfassung diskutierten und sich dabei auch über Details und Kommas der einzelnen Artikel stritten, erzielte die Sendung eine sensationell hohe Einschaltquote. Zwei Millionen Italiener schauten bis zuletzt zu, bis nach Mitternacht. Es war ein ungleiches Duell. Und danach waren sich alle Kommentatoren einig, sowohl diejenigen, die Renzi wohlgesonnen sind, als auch diejenigen, die ihn kritisch sehen, dass Renzi gewonnen hatte. Zagrebelsky sagte später, er habe sich noch nie so schlecht gefühlt wie nach dieser Talkshow. Die beiden Welten, seine und Renzis, seien einfach zu unterschiedlich, als dass sie miteinander kommunizieren könnten.

Die üblichen Widersacher wollen an die Macht. Um die Verfassung sorgen sie sich nicht

Wahrscheinlich war das Problem aber vor allem, dass der Jurist schon früh versuchte, den Politiker politisch anzugreifen, auf einem ihm artfremden Terrain also, statt ihn für die objektiven Widersprüche und das juristische Flickwerk in etlichen Passagen seiner Reform zu kritisieren. Das konnte nicht gutgehen. Den politischen Kampf liefert sich Renzi schon mit seinen üblichen Widersachern aus der Politik, von den Cinque Stelle über Forza Italia zur Lega Nord, den postfaschistischen Fratelli d' Italia und der extremen Linken. Alle wollen sie ihn über das Referendum stürzen sehen. Es treibt sie nicht so sehr die Sorge um die Demokratie an, sondern die Hoffnung, bald selber an die Macht zu kommen.

Renzi war schlagfertig und schnell. Zagrebelsky konterte mit lateinischen Vokabeln, die er mit Süffisanz ins Studio warf, während er Renzi mit großen Augen anschaute, als wollte er sagen: "Na, verstehst du was, du Schuljunge?" Er wirkte elitär, professorenhaft, sogar arrogant. Seitdem meidet er Interviews und Talkshows. Mails und Anrufe mit Anfragen beantwortet er nicht. Die Hilfe der Sekretärin, die ihm das Verfassungsgericht auch zwölf Jahre nach seiner Pensionierung noch immer zur Verfügung stellt, bringt da auch nichts: "Il Presidente", sagt sie, "ist gerade schwer erreichbar, auch für mich." Gustavo Zagrebelsky tritt nur noch vor Leuten auf, die ohnehin so denken wie er. Die klatschen und nicht allzu viele Fragen stellen.

© SZ vom 15.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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