Image:Jenseits des Jägerschnitzels

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Vielfältig, grün und mit guten Standards für Touristen: Warum die Bundesrepublik für Gäste aus dem Ausland so reizvoll geworden ist. Das gilt nicht nur für das hippe Berlin, sondern auch für scheinbar abgelegene Regionen.

Von Thomas Steinfeld

Ein großes Missverständnis ist über das Reisen im Umlauf: dass man in die Ferne aufbricht, um etwas Neues zu erleben. Nur der geringere Teil der Urlaubsreisen dürfte tatsächlich der Begegnung mit dem bislang Fremden gewidmet sein. Meistens hingegen fährt man an Plätze, die man kennt oder doch zumindest zu kennen glaubt. Das gilt für die Orte, mit denen man vertraut ist, weil man sie, über Bilder, Filme oder Bücher, schon bereiste, obwohl man noch nicht dort war. Und das gilt erst recht für Städte und Landschaften, an die man zurückkehrt, weil man die Natur, das Ambiente oder die Menschen schätzen lernte. Mallorca, die Costa del Sol oder die türkische Südküste: Die beliebtesten Urlaubsorte sind auch deshalb so beliebt, weil sie klimatisch bevorzugte Varianten eines heimatlichen Lebens bieten. Und die drei Wochen in Thailand sind nicht deshalb so attraktiv, weil man dort intensive Erfahrungen mit einer Militärdiktatur machen kann, sondern weil diese kurze Zeit am Strand gleichsam als Vorschein des Paradieses erscheint - oder genauer: eines Lebens unter Umständen, die einem Westeuropäer paradiesisch vorkommen.

In Zeiten, in denen man, aus rationalen oder irrationalen Gründen, den Aufenthalt unter vielen reisenden Menschen scheut, gewinnt das Vertraute zusätzlich an Bedeutung. Dass Deutschland als touristisches Ziel immer wichtiger wird, ist die einfache Folge - nicht einer Rückkehr zum vermeintlich Gesicherten, sondern einer Steigerung des Verlangens nach Vertrautem. Das gilt für Touristen aus dem Inland ebenso wie für ausländische Besucher. Und Deutschland kommt diesen Urlaubern entgegen, und zwar nicht nur, weil sich die Hotels einem internationalen Standard angeglichen oder die Köche vom Jägerschnitzel Abstand genommen haben. Sondern vor allem, weil es offenbar zunehmend gelingt, die Vielfalt Deutschlands bewusst werden zu lassen.

Kein anderes Land in Europa gibt es, das dermaßen von geografischen, klimatischen, kulturellen, konfessionellen, ökonomischen und politischen Unterschieden durchzogen wäre wie Deutschland. Es ist das Land der kleinen Regionen, das gegenwärtig immer interessanter wird.

Gewiss, es gibt vermutlich handfeste Gründe für die wachsende Beliebtheit. Dazu dürften die Furcht vor Anschlägen und das daraus resultierende Bemühen gehören, die Nähe von größeren Menschenansammlungen ebenso zu vermeiden wie den Aufenthalt auf Flughäfen und Bahnhöfen. Zugleich aber ändert sich für viele Menschen der Charakter des Urlaubs. Die Ferien am heißen Strand, die man dösend, essend, trinkend und feiernd verbringt, gibt es zwar nach wie vor, und es wird sie auch in Zukunft geben - doch womöglich eher begrenzt auf eine gewisse Klientel. Daneben rücken andere Typen von Urlaub auf. Sie sind mit kürzeren Entfernungen verbunden, weil die reine Erholung, oft unter "Wellness" eingestuft, die körperliche Aktivität, das kulturelle oder kulinarische Erlebnis wichtiger erscheinen lassen als das Liegen in der Sonne. Zudem sind, bedingt durch Veränderungen in der Arbeitswelt, für viele mehrere kürzere Urlaube pro Jahr leichter zu realisieren als drei oder vier Wochen ununterbrochener Abwesenheit. Von solchen Entwicklungen profitieren das Allgäu, die Mecklenburgische Seenplatte oder das Weserbergland.

Für deutsche Touristen sind viele dieser Gegenden mit Traditionen verbunden. Die Ostseeküste etwa ist ein Feriengebiet seit mehr als 150 Jahren, und dorthin reisen nicht nur, aus alter Verbundenheit, die Urlauber aus Chemnitz oder Leipzig, sondern auch Berliner und Kölner, weil sich ihnen in solchen Regionen eine Geschichte entfaltet. Urlauber, die aus anderen Ländern nach Deutschland kommen, verhalten sich vermutlich ähnlich: Die Niederländer, die sich für ein paar Tage oder Wochen an der Edertalsperre niederlassen, scheinen nicht auszusterben, weil das Sauerland für sie die nächstgelegene Möglichkeit bietet, zwischen Hügeln und Bäumen zu leben. Zugleich aber werden Bamberg und Weimar, ja auch scheinbar so abgelegene Gegenden wie das nördliche Unterfranken oder der Südwesten der Pfalz immerhin zu möglichen touristischen Zielen, und zwar nicht nur, weil es dort still und schön ist, sondern auch, weil sich dort - in einem offenbar immer komplizierter werdenden Europa - erkennen lässt, wie alte Grenzen unter den neuen verlaufen.

Etwas Ähnliches muss auch für Berlin gelten, für die deutsche Destination schlechthin, jenseits aller Kunst und Kultur, jenseits aller Kneipen und Events, und abgesehen davon, dass diese Stadt im internationalen Vergleich eine immer noch konkurrenzlos billige Metropole darstellt.

Deutschland ist, allen Aufregungen um Flüchtlinge zum Trotz, ein weitgehend befriedetes Land. Es ist auch ein für Urlauber interessantes Land, größer und grüner, als das alte Vorurteil von der Industrienation wahrhaben will. Beide Faktoren wirken offenbar zusammen, damit die Touristen kommen. Im Moment scheint diese Verbindung zu wirken.

© SZ vom 01.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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