IBA Sachsen-Anhalt:Rurale Republiken

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In wenigen Tagen beginnt die IBA Sachsen-Anhalt. Die Ausstellung eröffnet Szenarien zur Zukunft eines schrumpfenden Landes - getreu dem Motto "Weniger ist Zukunft".

Jens Bisky

Die Landschaften werden blühen, wenn am kommenden Wochenende in Magdeburg und Dessau die Internationale Bauaustellung eröffnet wird. Sie ist - zum ersten Mal - einem ganzen Bundesland gewidmet und obendrein einem Thema, das zwar intellektuell herausfordernd, aber ästhetisch wenig ergiebig scheint: dem Stadtumbau unter dem Motto "Weniger ist Zukunft".

2002 hatte Sachsen-Anhalt, das damals wohl als Bundesland mit dem schlechtesten Image galt, 43 Städte begeistern können, eigene Konzepte des Schrumpfungsmanagements zu entwickeln.

Nun, im Jahr der Präsentation, sind noch 19 Städte mit dabei. Auf große Bauvorhaben, auf Leuchttürme wurde bewusst verzichtet. Das Bauhaus in Dessau wird eine Überblicksausstellung zeigen, Denkmalfrühstück und Schrumpfoper sollen Besucher anlocken, sich zwischen Aschersleben und Weißenfels umzusehen.

Aber es gibt ja schon jetzt keine stichhaltige Ausrede mehr, Sachsen-Anhalt nicht zu kennen: die Uta von Naumburg, die Reformer von Wittenberg wie die Pietisten von Halle oder die seit 1700 unentwegt Modernen aus Dessau. Wenn alles gut läuft, könnte der entscheidende Ertrag der Internationalen Bauausstellung dieses Jahres in einer Diskussion bestehen, die immer wieder angemahnt wurde, und dennoch nicht recht in Schwung gekommen ist. Wie wollen wir in einer Gesellschaft mit zunehmender Ungleichheit leben? Wie justieren wir das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit unter diesen Bedingungen neu?

Für die IBA 2010 hat der Geograph Jürgen Aring kritisiert, dass "die vorhandenen Ansätze auf Anpassungen in einem ansonsten stabilen Gesellschaftsvertrag setzen". Dass es schrumpfende Regionen gibt, hat sich herumgesprochen. Es betrifft vor allem den Osten und den Norden der Republik, 2020 wird jeder zweite Landkreis in Deutschland mit sinkenden Einwohnerzahlen konfrontiert sein. Das Leitbild der "gleichwertigen Lebensverhältnisse" blieb bisher zwar nicht unangetastet, ist aber dennoch weitgehend in Kraft.

Als der Bundespräsident, Horst Köhler, zu Beginn seiner ersten Amtszeit das illusorische und teure Versprechen gleichwertiger Verhältnisse teuer und illusorisch nannte, wurde er so scharf attackiert, dass ihm die Lust an dergleichen Deutlichkeit verging. Eine Kompromissformel hat sich inzwischen eingebürgert: Es gehe ja nicht um Gleichheit, sondern um Gleichwertigkeit.

Sehr zu Recht wendet Aring, der in Kassel Stadt- und Regionalplanung lehrt, dagegen ein, dass niemand genau sagen könne, "wie viel räumliche Ungleichheit die Idee der Gleichwertigkeit verträgt". Ein Maß aber der gewollten oder doch zulässigen Unterschiede braucht es, wenn die Rede von der Gleichwertigkeit mehr sein soll als eine Beruhigungsfloskel.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was man aus zwei Jahrzehnten "Aufbau Ost" lernen konnte ...

Sachsen-Anhalt hat seit 1989 etwa 17 Prozent seiner Bevölkerung verloren. Man rechnet damit, dass die Einwohnerzahl von heute 2,37 Millionen weiter auf etwa 1,97 Millionen im Jahr 2025 sinken wird. Die Zahl der "Nicht-mehr-Abwanderunsgfähigen" wächst: Alte, Schulabbrecher, Menschen mit starken lokalen Bindungen. Das Land gleiche, heißt es in einem Zukunftsszenario von Stefan Rettich und Kai Dolata, "zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung einer innerdeutschen Peripherie. Ein Transitland mit 250 neuen Gewerbegebieten, von denen nur ein Bruchteil besetzt ist, meist mit flüchtigen Großarchitekturen global agierender Logistikunternehmen". Es gibt Hochrechnungen, die hier das "Altersheim Europas" entstehen sehen. Ein höheres Durchschnittsalter wird zunächst für keine andere Region erwartet.

Zahlen und Rechnungen wie diese verführen zur routinierten Artikulation von Besorgnis, als sei das Schrumpfen eine Anomalie, die man wegfördern oder doch wenigstens wegerklären müsse. Das Eine aber hat man aus den zwei Jahrzehnten des "Aufbaus Ost" lernen können: Selbst unter optimalen Bedingungen kommen Transformationsgesellschaften nicht irgendwann am Zielbahnhof an. Sie entwickeln vielmehr eine eigene Dauer und Struktur des Übergangs.

In Ostdeutschland wissen das die Leute und hören längst weltklug weg, wenn ihnen noch einer glückliche, wenn auch verspätete Ankunft verheißt. Der Soziologe Heinz Bude hat über mehrere Jahre gemeinsam mit Kollegen, Studenten, Künstlern den Wandel im brandenburgischen Wittenberge beobachtet, das nicht weit von der Grenze zu Sachsen-Anhalt entfernt liegt.

Er glaubt, dass die "Zeit des Wartens" vorüber sei, man lebe in einer "Zeit des Seins". Zu diesem Dasein ohne Zukunftsversprechen und übergroße Erwartungen gehört das Schrumpfen selbstverständlich dazu. Man lebt damit. Es meint aber nicht nur ein Weniger, sondern auch eine Zunahme der Ungleichheit. Während einige Metropolen, Wirtschafts- und Forschungszentren wachsen, entstehen auf der anderen Seite Räume mit überdurchschnittlicher Schrumpfung. Den Trend gibt es überall, nicht nur im Osten.

Gegen die Ungleichverteilung steht die Formel von den "gleichwertigen Lebensverhältnissen". Sie verheißt einen Ausgleich der Unterschiede, so wie der Sozialstaat zwischen denen da oben und denen da unten für Ausgleich sorgen, Extreme mildern soll.

Daher rührt auch das Erregungspotential des Schrumpfungsthemas: Man spricht über das, was diese Gesellschaft zusammenhält, über ihr Selbstverständnis, ihre grundlegenden Werte. In der politischen Klasse scheint Konsens zu herrschen, über den mit großen Erfolgen gescheiterten "Aufbau Ost" möglichst nicht mehr oder doch nur in jubiläumsnahen Feierstunden zu sprechen.

Der Streit um "Hartz IV" bleibt im Austausch von Ressentiments und unbewiesenen Behauptungen stecken. Da geht es inzwischen um alles Mögliche, aber nicht mehr um die Zukunft des Sozialstaats. Das Schrumpfungsthema bietet sich da als Kern der ja noch immer notwendigen Debatte um einen neuen Gesellschaftsvertrag an. Natürlich schreckt man vor den übergroßen Worten erst einmal zurück und hätte es gern eine Nummer kleiner, handlicher.

Worum es geht, zeigt Jürgen Aring mit einer schwedischen Geschichte: Er hat Småland besucht, das Herz Südschwedens: Seen, Nadelwälder, Leere. Dort traf er einen deutschen Arzt, ausgewandert aus Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen. Der Arzt wohnt nun in einem 300-Seelen-Dorf in der Kommune Vetlanda, die 1600 Quadratkilometer umfasst. Pro Quadratkilometer werden 18 Einwohner gezählt. Der Arzt ist für rund 4000 Kinder zuständig und hat dennoch Arbeitszeiten von etwa 8 bis 17 Uhr und freie Wochenenden. Er wird sogar regelmäßig für Fortbildungen freigestellt. Er habe, sagt er, keinen "Landarzt-Stress, wie man ihn in Deutschland kenne".

Wenn ein Kind abends krank wird, rufen die Eltern in der Gesundheitszentrale an, wo man versuche, die Lage einzuschätzen und mit Empfehlungen zu helfen. Wenn es nicht anders gehe, müssen die Eltern mit dem kranken Kind ins Kreiskrankenhaus fahren, das ungefähr 75 Kilometer entfernt liege. Deutsche Mütter empfänden, so Aring, eine Situation wie diese als "massive Unterversorgung". Aber um die Gesundheit der Kinder stehe es in Schweden keinesfalls schlechter als in der Bundesrepublik.

Das Beispiel ist schlagend. Ein neuer, mit der wachsenden Ungleichheit rechnender Gesellschaftsvertrag würde die räumlichen Unterschiede nicht in erster Linie als Problem betrachten, sondern auf sie mit angemessen flexiblen und differenzierten Regularien reagieren. Keine am Maßstab dicht besiedelter Regionen orientierte Qualitätsdiskussion, stattdessen die Frage, wie unter den gegebenen Umständen das Gemeinwesen am besten funktionierte.

In Vorbereitung der IBA ist viel von verschiedenen Räumen je eigenen Rechts gesprochen worden, von Stadtzentren, die zu aktualisieren wären, von "ruralen Republiken" und "urbanen Cluster-Cities", von Konkurrenzen um die Nutzung des unbesiedelten Landes. Wie diese aussehen können und wie man in ihnen leben will, wird hoffentlich ab der kommenden Woche debattiert. Dann begänne die Zeit der Experimente.

© SZ vom 06.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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