Grün-Rot in Baden-Württemberg:Konzert mit schönen Dissonanzen

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Stuttgart 21 und die Zukunft der Autoindustrie waren die größten Streitpunkte bei den Koalitionsverhandlungen in Baden-Württemberg. Doch auch bei anderen Themen ließ sich nur mit Mühe ein Kompromiss finden. Und dann gibt es noch die Basis der Parteien, die das Wünschenswerte mehr liebt als das Machbare. Die wichtigsten Konfliktpunkte im Einzelnen.

Roman Deininger und Dagmar Deckstein, Stuttgart

Eine "Liebesheirat" von Grünen und Sozialdemokraten hatte der designierte grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann vor gut drei Wochen angekündigt, da standen die Koalitionsgespräche noch am Anfang. Inzwischen spricht er von einer "Liebesheirat mit getrennten Betten". In ihrem Koalitionsvertrag haben die beiden Partner mittlerweile Kompromissformeln für ihre Konflikte gefunden - gelöst sind sie damit aber noch längst nicht. Und manch ehrgeiziges Vorhaben der neuen Regierung wird gewiss auch die Liebe der Wähler auf eine harte Probe stellen.

Der designierte grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann (2.v.l.) und SPD-Landeschef Nils Schmid (2.v.r.) hatte einige Mühe, bis der Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg unterschriftsreif war. (Foto: dapd)

Weniger Autos?

Der Satz stand an Ostern eigentlich ganz harmlos in einem Interview, das Kretschmann der Bild am Sonntag gegeben hatte und in dem er - eines seiner Lieblingsthemen - den ökologischen Umbau der deutschen Autoindustrie pries: "Weniger Autos sind natürlich besser als mehr."

Der Aufschrei, der sich sogleich und vielstimmig im Herzland der Autoindustrie erhob, ist bis heute noch nicht verhallt. In Baden-Württemberg sind 30 Prozent aller Arbeitskräfte der deutschen Auto- und Zulieferindustrie angesiedelt. Die hier gefertigten Edelmarken Daimler, Porsche und Audi leben davon, dass sie zurzeit vor allem im asiatischen und amerikanischen Ausland glänzende Absatzzahlen verbuchen. Ganz abgesehen davon, dass eine Landesregierung nur äußerst begrenzten Einfluss auf die strategische Ausrichtung einer ganzen Industrie nehmen kann, sah sich Koalitionspartner Nils Schmid sogleich genötigt, etwas Dampf aus der Diskussion um die Autoindustrie abzulassen: "Klar ist doch, jede baden-württembergische Landesregierung hat Benzin im Blut", behauptete Schmid und machte deutlich, dass das erste große, industriepolitische Signal des künftigen Regierungschefs für ihn in die falsche Richtung weist.

Bevor er sich an den ökologischen Umbau der baden-württembergischen Wirtschaft macht, die sich Grün-Rot ins Koalitionsmanifest geschrieben haben, dürfte Kretschmann erst einmal den Einladungen der mächtigen Betriebsratschefs von Daimler und Porsche folgen. Die wollen ihm klar machen, an welchen alternativen Antrieben und neuen Mobilitätskonzepten die Branche bereits arbeitet. Nicht von ungefähr hat auch Daimler-Chef Dieter Zetsche schon vor zwei Jahren, lang vor Grün-Rot, die Devise ausgegeben: "Wir müssen das Auto neu erfinden."

Der Graben, der die Grünen und die SPD in der Bahnhofsfrage trennt, ist so breit, dass er eine Regierungszusammenarbeit durchaus hätte verhindern können. Die Roten sind für den Bau des Tiefbahnhofs in der Stuttgarter Innenstadt, die Grünen lehnen ihn strikt ab. Im Wahlkampf haben sich die beiden Parteien darauf verständigt, eine notdürftige Brücke über den Graben zu bauen. Die Brücke hat die Form einer Volksabstimmung, die laut Koalitionsvertrag bis spätestens Mitte Oktober stattfinden soll.

Dass diese Volksabstimmung nun nach Maßgabe der Landesverfassung ablaufen soll, ist ein großer Verhandlungserfolg der SPD. Drei mitunter ruppige Gesprächsrunden benötigten die Delegationen für diese Einigung; bis zuletzt versuchten die Grünen, eine informelle Volksbefragung durchzusetzen. Die Grünen wissen nämlich, dass die Bahnhofsgegner bei einer Volksabstimmung wohl am wirklichkeitsfern hohen Quorum in Baden-Württemberg scheitern würden: Um Stuttgart 21 zu verhindern, würde eine einfache Mehrheit der Wahlteilnehmer nicht reichen.

Ein Drittel aller Wahlberechtigten müsste gegen den Bahnhof stimmen, das wären rund 2,5 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Bei der Landtagswahl am 27. März haben 1,2 Millionen Menschen grün gewählt. "Diese Hürde ist nicht zu schaffen", sagt ein Ministerkandidat der Grünen. Bevor sie vor der Volksabstimmung gegeneinander Wahlkampf machen, wollen Grüne und SPD aber noch versuchen, das Quorum zu senken oder ganz abzuschaffen. Für eine entsprechende Verfassungsänderung bräuchten sie aber eine Zweidrittelmehrheit im Landtag - und damit die Stimmen der CDU-Fraktion. Deren Chef Peter Hauk hat bereits abgewunken, man werde nicht den "Steigbügelhalter" für Grün-Rot geben.

Die Grünen konzentrieren sich deshalb auf den "Stresstest", die in der Schlichtung vereinbarte Effizienzprüfung des Projekts. Sie hoffen, dass die Bahnpläne diesen Test nicht bestehen. Die Chancen dafür haben die Grünen durch einen Passus im Koalitionsvertrag verbessert: Sollten die Kosten von Stuttgart 21 die Obergrenze von 4,5 Milliarden Euro überschreiten, wird sich das Land an möglichen Mehrausgaben nicht beteiligen. Ohnehin ist damit zu rechnen, dass sich der noch unbekannte grüne Verkehrsminister bemühen wird, der Bahn das Leben schwer zu machen.

Ein Erfolg der Grünen ist es auch, dass die Volksabstimmung sich nur auf den Stuttgarter Bahnhof beziehen soll und nicht auf die zugehörige ICE-Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm. Ein Nein gegen den Bahnhof allein dürfte leichter zu bekommen sein als ein Nein gegen das Gesamtpaket. Viele heikle Fragen zu Stuttgart 21 hat die neue Koalition bisher gemieden. Unter anderem hatte sie einen Bau- und Vergabestopp bis zur Volksabstimmung gefordert und gehofft, dass die Bahn die Kosten dafür schon tragen werde. Dem erteilte der Konzern aber am Dienstag eine Absage. Die Brücke, die sich die Grünen und sie SPD gebaut haben, muss sich erst noch als tragfähig erweisen.

Ein Mangel an Ambition ist dem grün-roten Bündnis nicht abzusprechen, schon gar nicht in der Energiepolitik. Die Angst der Bürger nach der atomaren Katastrophe von Fukushima hat der Koalition bei der Landtagswahl wohl die entscheidenden Stimmen gebracht. Nun wollen Grüne und Rote auf diesem Feld auch liefern: Baden-Württemberg, sagte Kretschmann am Mittwoch, solle zum "Musterländle der erneuerbaren Energien" werden.

Dahin ist es allerdings ein weiter Weg, denn das Land lebte bisher wie kaum ein anderes von Atomstrom. Kretschmann kündigte an, der von der scheidenden schwarz-gelben Regierung blockierten Windkraft eine Chance zu geben. Derzeit hat die Windenergie nur einen Anteil von 0,7 Prozent an der baden-württembergischen Gesamtproduktion, bis 2020 sollen es zehn Prozent sein. Dafür müssten natürlich viele neue Windräder aufgestellt werden - auch gegen den Widerstand der Bevölkerung, der in den jeweiligen Gemeinden oft von den Grünen getragen wird. Grüne gegen grün, Ökos gegen öko: Für Kretschmann und seine Regierung ist die Konfrontation mit der eigenen Basis programmiert.

Parallel wollen Grüne und SPD den Ausstieg aus der Atomkraft vorantreiben und beschleunigen. "Wir wollen uns dafür einsetzen, dass die alten Meiler nicht mehr ans Netz gehen", sagte Kretschmann. Den vom Moratorium der Bundesregierung betroffenen Kernkraftblock Neckarwestheim 1 hat der Betreiber EnBW schon abgeschrieben, der Verzicht auf Philippsburg 1 dürfte dem Konzern indes schwerer fallen. Das Land hält 45 Prozent der Anteile an der EnBW - die grün-rote Regierung ist also auf gewisse Weise Atomkraftwerk-Betreiber. Der Umbau des Konzerns auf erneuerbare Energien könnte zur enormen Belastung für den Landeshaushalt werden.

Der grün-rote Politikwechsel, betont Kretschmann gern, werde in der Bildungspolitik "am deutlichsten erkennbar" sein. Damit erklärt er einen Politikbereich zum Prüfstand für seine Koalition, in dem es aller wahltaktischen Weisheit nach wenig bis nichts zu gewinnen gibt. Gleich nach Beginn der Koalitionsverhandlungen musste Grün-Rot das bereits leidvoll erfahren: Wegen der sinkenden Schülerzahlen, teilten die Verhandler mit, werde man in der Lage sein, 1500 Lehrerstellen einzusparen. Sofort erhob sich ein empörter Aufschrei von Eltern- und Lehrerverbänden.

Bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags war die Wortwahl der grün-roten Protagonisten dann schon weicher: Zum Ende der fünfjährigen Legislaturperiode seien "moderate Einsparungen" bei den Lehrerstellen denkbar. Nicht nur aufgrund dieser Erfahrung will Grün-Rot bei der geplanten Umwälzung der Bildungspolitik "behutsam" vorgehen. Die in einer Volksabstimmung gescheiterte Schulreform in Hamburg gilt als mahnendes Vorbild. Dennoch kritisieren Uni-Rektoren bereits die Abschaffung der Studiengebühren. Das schwierigste Projekt wird aber sicher die Einführung der Gemeinschaftsschule sein, in der Kinder bis zur zehnten Klasse gemeinsam lernen sollen. Grüne wie Rote beeilen sich stets zu versichern, dass man auf "Freiwilligkeit" setze und nichts überstürzen wolle.

Die gewaltigen Vorhaben der neuen Regierung kosten gewaltig Geld. Für den schnellen Ausbau der Kinderkrippen, die bis 2013 jedem Kind im Land einen Platz bieten sollen, benötigen die Koalitionäre nach eigenen Angaben 300 Millionen Euro. Die sollen aus einer Erhöhung der Grunderwerbssteuer um 1,5 Prozentpunkte auf fünf Prozent kommen. Die CDU schimpft bereits über "Abzocke", die FDP sieht die "Häuslebauer" akut bedroht. Soziale Härten wolle man abfedern, sagt Kretschmann - wie genau, ist jedoch noch nicht bekannt.

Auch den Verzicht auf Studiengebühren muss die neue Regierung irgendwie ausgleichen, denn den Hochschulen soll nicht weniger Geld zur Verfügung stehen. Die dafür nötigen 130 Millionen Euro will SPD-Verhandlungsführer Nils Schmid, der wahrscheinlich das Finanzministerium übernehmen wird, durch "Umschichtungen im Haushalt" aufbringen. Was genau wohin geschichtet werden soll, hat er bisher nicht näher erläutert. Gleichzeitig wollen Grüne und Rote aber auch den Haushalt konsolidieren - bis 2020 muss laut Verfassung die Nullverschuldung erreicht sein. Kretschmann sagte am Mittwoch, der Spagat zwischen diesem Ziel und "kraftvoller Gestaltung" sei die "große Herausforderung" seiner Regierung.

© Sz vom 28.04.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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