Großbritannien:Verkleinertes Königreich

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Der Brexit macht eine Abspaltung Schottlands wahrscheinlich, denn es will unbedingt in der EU bleiben.

Von Alexander Menden, London

Nichts verdeutlichte die Spaltung des Vereinigten Königreiches am Morgen nach dem EU-Referendum stärker als die Landkarten, auf denen die Fernsehsender die Verteilung der Mehrheiten farblich markierten. England und Wales waren fast ganz ins Blau der "Leave"-Seite getaucht. Nur London und ein paar andere urbane Zentren stachen als gelbe "Remain"-Inseln hervor. Ganz anders sah es im Norden aus: Ganz Schottland war in Gelb getaucht, ebenso wie der nördliche Zipfel Irlands.

Besonders im Falle Schottlands sahen diese Karten ein bisschen so aus, als sei ein anderes Referendum, das zur schottischen Unabhängigkeit vor zwei Jahren, zugunsten jener ausgegangen, die eine Loslösung vom staatlichen Konstrukt des Vereinigten Königreiches befürworteten. Damals hatte letztlich eine Mehrheit für einen Verbleib in Großbritannien gestimmt. Beim Europareferendum aber hatten sich auch sämtliche 32 schottischen Wahlkreise mit einem durchschnittlichen Ergebnis von 62 zu 38 Prozent dafür ausgesprochen, in der EU zu bleiben. In der schottischen Hauptstadt Edinburgh etwa waren 77,44 Prozent der Wähler EU-Befürworter. Dennoch war das gesamtbritische Brexit-Votum damit nicht verhindert worden. Dass auch noch der umstrittene amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump am Tag nach dem Referendum ein von ihm renoviertes Golfgelände im südwestschottischen Ayrshire besuchte und den Brexit "eine großartige Sache" nannte, dürfte die Stimmung nicht verbessert haben.

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(Foto: Rob Stothard/Getty Images)

Ort der Zäsur: Am Freitagmorgen wurden die Ergebnisse des britischen EU-Referendums bekannt gegeben. Die Reaktionen fielen sehr unterschiedlich aus.

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(Foto: Rob Stothard/AFP)

Anhänger der "Stronger In"-Kampagne sind sichtlich enttäuscht über das Ergebnis.

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(Foto: Andrew Kelly/Reuters)

Fernab vom Geschehen, in der New Yorker "Churchill Tavern", macht sich Bestürzung breit, als von der BBC die ersten Prognosen bekannt gegeben werden.

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(Foto: Rob Stothard/Pool/Reuters)

Fakten-Check? Die Brexit-Gegner um Bildungsministerin Nicky Morgan (r.) starren nach dem niederschmetternden Resultat wie gebannt auf ihre Smartphones.

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(Foto: Rob Stothard/Pool/AFP)

Jetzt offensichtlich "out": Zwei Brexit-Gegner nach dem EU-Referendum.

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(Foto: Simon Dawson/Bloomberg)

Ziel erreicht: Paul Nuttall (Mitte), Parteiführer der UKIP und Mitglied des Europäischen Parlaments, triumphiert, als er erfährt, dass der Austritt besiegelt ist.

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(Foto: Justin Tallis/AFP)

Auch für Boris Johnson, den ehemaligen Bürgermeister von London, war der 24. Juni ein Freudentag. Er befürwortete den Brexit.

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(Foto: Michael Kappeler/dpa)

Nigel Farage, Vorsitzender der UK Independence Party, präsentiert sich den Fotografen in Siegerpose.

Schon vor der Volksabstimmung war spekuliert worden, ob die europafreundliche schottische Regierung unter der Ersten Ministerin Nicola Sturgeon von der Scottish National Party (SNP) ein solch disparates Ergebnis zum Anlass nehmen würde, einen erneuten Anlauf zur vollen Unabhängigkeit von London zu nehmen. Tatsächlich machte Sturgeon in ihrer ersten Reaktion klar, dass sie die "schottische Zukunft in der EU" sehe. Sie versicherte in Schottland lebenden EU-Bürgern, sie seien weiterhin willkommen. Sowohl sie als auch der Londoner Labour-Bürgermeister Sadiq Khan betrachteten die abweichende schottische Mehrheit als Mandat für separate Verhandlungen mit Brüssel.

Nicola Sturgeon betonte zudem, dass viele Schotten ihre Entscheidung, in Großbritannien zu bleiben, in der Annahme gefällt hätten, nur so könnten sie auch weiterhin Teil der Europäischen Union sein. Das Ergebnis vom Donnerstag habe also die Voraussetzungen grundlegend verändert, vor deren Hintergrund das Unabhängigkeitsvotum 2014 abgegeben worden sei. Ein weiteres Referendum sei nun also "sehr wahrscheinlich". Die Erste Ministerin ist offensichtlich entschlossen, Schottland in der EU zu halten. Angesichts der unüberbrückbaren Unterschiede in der Europapolitik zu England und Wales wäre diesmal eine Abspaltung von Großbritannien also äußerst wahrscheinlich.

Schottischer Schabernack: Opfer ist der Duke of Wellington. (Foto: Chris Ratcliffe/Bloomberg)

In Nordirland forderte derweil der stellvertretende Erste Minister Martin McGuinness ein eigenes Referendum, in dem die Frage nach der Wiedervereinigung mit der Republik Irland gestellt werden solle. Dieses Ansinnen des republikanischen Sinn-Féin-Politikers wurde von der Ersten Ministerin Arlene Foster von der protestantischen Democratic Unionist Party umgehend abgelehnt. In Nordirland lassen sich die EU-Gegner und -befürworter recht genau entlang der Sollbruchstellen umreißen, die diese viele Jahrzehnte unruhigste Region Großbritanniens definierten: Während die katholische Mehrheit für einen Verbleib stimmte, war die Minderheit der protestantischen Loyalisten, die sich über ihre britische Identität definieren, überwiegend für den Brexit.

Mit der Republik Irland hat Nordirland ein überzeugtes Mitglied der EU als Nachbarn. Seit Beginn des unter Tony Blair eingeleiteten nordirischen Friedensprozesses ist die Grenze zur Republik immer durchlässiger geworden. In Derry, in den Siebzigerjahren Schauplatz der blutigsten Zusammenstöße zwischen Katholiken und britischer Armee, kann man problemlos mit Euros bezahlen. Viele Arbeitnehmer pendeln in die Republik und umgekehrt. Sollte die Reisefreiheit zwischen dem Territorium des Vereinigten Königreiches und der EU im Zuge des Austritts aufgehoben werden, könnte das tief greifende wirtschaftliche Konsequenzen für die strukturschwache Region haben.

Die Alternative wäre, dass die Landgrenze offen bleibt, die Nordiren sich aber bei der Einreise nach Großbritannien kontrollieren lassen müssten. Der Premier der Republik Irland, Enda Kenny, hat angesichts dieser komplizierten Gemengelage angekündigt, dass er bei den anstehenden Austrittsverhandlungen darauf dringen werde, die Reisefreiheit zwischen seinem Land und dem Vereinigten Königreich zu erhalten. Wie diese Sonderregelung umgesetzt werden könnte, ist jedoch völlig unklar.

© SZ vom 25.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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