Großbritannien:Spurensuche im Turm des Todes

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Ein Mahnmal über London: Beim Brand des Grenfell Tower im Juni starben mindestens 80 Menschen. (Foto: Carl Court/Getty Images)

Einen pensionierten Richter hat die Premierministerin beauftragt zu ermitteln, warum der Londoner Grenfell Tower so mörderisch schnell ausgebrannt ist. Er begegnet zunächst Wut und Verwirrung.

Von Christian Zaschke, London

Wie wenig die Überlebenden des verheerenden Brandes im Grenfell Tower im Westen Londons der Politik noch trauen, erlebte am Donnerstagabend der pensionierte Richter Martin Moore-Bick. Er ist von Premierministerin Theresa May beauftragt worden, eine Untersuchung zu leiten: Wie genau konnte es zu dem Feuer kommen, bei dem im vergangenen Monat mindestens 80 Menschen starben?

Moore-Bick traf mit den Überlebenden zusammen, um über die Rahmenbedingungen seiner Untersuchung zu sprechen. Eigentlich ist er ihr Verbündeter, er ist der Mann, der die Antworten auf all die drängenden Fragen finden soll. Doch er ist eben auch ein Vertreter der Regierung, weshalb ihm die meisten mit unverhohlener Skepsis gegenübertraten.

Was Moore-Bick in seinen 20 Jahren als Richter selten bis nie erlebt hat, war bei seiner Begegnung mit den ehemaligen Anwohnern des Grenfell Tower die Regel: Zwischenrufe, Kopfschütteln, demonstratives Stöhnen. Eine Teilnehmerin des dreistündigen Treffens erzählte, es habe Frust, Wut und Verwirrung gegeben. Viele fragten, warum es nicht längst Festnahmen gegeben habe. Ohne Festnahmen, sagte sie, werde nie der Eindruck entstehen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan werde. Moore-Bick sprach derweil von einem "sehr nützlichen Treffen".

Die brennbaren Platten an der Fassade waren billiger als feuerfeste

Vieles deutet darauf hin, dass die Katastrophe vermeidbar war. Innerhalb kurzer Zeit, nachdem in einer Wohnung im vierten Stockwerk ein Kühlschrank in Brand geraten war, stand der Turm in Flammen wie ein 70 Meter großes Streichholz. Die Brandexperten gehen davon aus, dass das vor allem an dem Aluminium-Verbundplatten lag, mit denen das Gebäude verkleidet war. Diese waren erst im vergangenen Jahr bei einer Renovierung angebracht worden. In deren Verlauf wurden offenbar brennbare Platten benutzt, weil diese billiger waren als feuerfeste. Derzeit werden 600 Hochhäuser im ganzen Land geprüft, die mit ähnlichem Material verkleidet worden sind. 190 von 191 bisher untersuchten Gebäuden sind beim Brandschutztest durchgefallen.

Der Vorsitzende des Gemeinderats von Kensington ist mittlerweile zurückgetreten, auch, weil die Mitglieder des Gremiums auf den Brand zunächst kaum reagierten. Es waren religiöse Gemeinden, Hilfsorganisationen und Privatleute, die den Überlebenden in den ersten Stunden und Tagen halfen. Die Tatsache, dass auch Premierministerin Theresa May zunächst nicht mit den Anwohnern sprach, tat ein Übriges, um das Vertrauen in die Politik zu unterminieren. Der Grenfell Tower bestand aus Sozialwohnungen; in solchen Gebäuden leben die ärmeren Einwohner Londons. Nach dem Brand hatten viele von ihnen den Eindruck, dass ihr Schicksal der Politik gleichgültig ist.

Umso intensiver laufen nun die Bemühungen, den Bedürfnissen der ehemaligen Hausgemeinschaft gerecht zu werden. Der frühere Richter Moore-Bick hat den Anwohnern sein Wort gegeben, dass er unabhängig und mit aller Kraft ermitteln werde. Der Gemeinderat versucht derweil, den Überlebenden neue Wohnungen in der Gegend zu besorgen. 158 Familien brauchen eine neue Bleibe. Im reichen Kensington sind Sozialwohnungen, die für Familien geeignet sind, allerdings ziemlich knapp.

Bis zum Ende dieser Woche sollte jeder Familie ein Angebot für zumindest eine Übergangswohnung vorliegen. Nur 14 Familien haben ein solches Angebot bisher angenommen.

© SZ vom 08.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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