Großbritannien:Operation Notbremse

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Der britische Premier Cameron lobt seine eigenen Fortschritte bei Gesprächen mit der EU. Viele seiner Parteimitglieder sind anderer Meinung. Sie quittieren die bisherigen Verhandlungen mit Kraftausdrücken.

Von Christian Zaschke, London

David Cameron hat während seiner Verhandlungen über ein neues Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur EU oft über die große Bedeutung der nationalen Parlamente gesprochen. Deshalb war es eine interessante Volte, dass er es am Dienstag nicht für nötig hielt, das Unterhaus zuerst über den bisher wichtigsten Schritt bei eben diesen Verhandlungen zu informieren. Der britische Premierminister trat in einer Fabrik in Chippenham auf, 160 Kilometer westlich von London, und sprach dort davon, dass er Fortschritte gemacht habe. Besonders eine sogenannte Notbremse bei der Verpflichtung, umgehend Sozialleistungen an Neu-Einwanderer aus der EU zu zahlen, wertete er als Erfolg.

Zuvor hatte EU-Ratspräsident Donald Tusk in Brüssel einen Entwurf vorgelegt, der auf Camerons Reformwünsche eingeht und für jedes der Anliegen des Premiers konkrete Lösungen vorschlägt. Sollten sich auf dem EU-Gipfel Mitte Februar alle 28 Staats- und Regierungschefs auf die Vorschläge einigen, wird Cameron voraussichtlich im Juni eine Volksabstimmung über die britische EU-Mitgliedschaft anberaumen. Die Reaktionen in London fielen erwartungsgemäß sehr unterschiedlich aus. Während Pro-Europäer die Fortschritte und das Entgegenkommen der EU lobten, kritisierten die Europaskeptiker den Entwurf als "substanzlos" und "Augenwischerei". Der ehemalige Verteidigungsminister Liam Fox sagte: "In Anbetracht dieser Vorschläge bleibt uns nur der Austritt." Andere Parlamentarier verpackten ihren Ärger gar in Kraftausdrücke.

Für das Gros der EU-Gegner war von Beginn an bedeutungslos, was Cameron aushandelt; sie hätten das Ergebnis unter allen Umständen abgelehnt. Die spannende Frage ist nun, wie die Prominenz innerhalb der Konservativen Partei auf die Vorschläge von Tusk reagiert. Cameron hat es seinem Kabinett freigestellt, für oder gegen einen Austritt zu werben. Die meisten Regierungsmitglieder haben sich noch nicht erklärt. Als möglicherweise entscheidend für den Ausgang des Referendums gilt, welchem Lager sich der Londoner Bürgermeister Boris Johnson anschließt. Er lobte seinen Parteifreund Cameron am Dienstag für die exzellente Arbeit und mahnte: "Aber es ist noch sehr viel zu tun." Johnson macht es wie immer: Er hält sich alle Optionen offen.

Könnte bereits im Juni eine Volksabstimmung über die britische EU-Mitgliedschaft anberaumen: Premierminister Cameron ist mit seinen Verhandlungen zufrieden. (Foto: Julien Warnand/AP)

Oppositionsführer Jeremy Corbyn hatte am Dienstagmittag im Parlament eine dringende Anfrage zum Stand der Verhandlungen gestellt. Wenn der Chef der Opposition eine solche Anfrage stellt, antwortet normalerweise der Chef der Regierung. Da Cameron aber in Chippenham weilte, brachte der für Europa zuständige Staatssekretär die Abgeordneten auf den neusten Stand. Wobei: Im Grundsatz sagte er nur, er könne nicht viel sagen, da es sich um laufende Verhandlungen handele.

Corbyn kritisierte die Abwesenheit des Premiers und fragte, warum in aller Welt Cameron ausgerechnet in Chippenham spreche. Es handele sich übrigens, dies sagte Corbyn lächelnd und sehr nebenbei, um seinen Geburtsort. Erst an diesem Mittwoch wird Cameron im Parlament sprechen. Beobachter glauben, er habe sich Zeit gelassen, um seine Hinterbänkler auf den Deal einschwören zu können.

Die pro-europäische Scottish National Party hat am Dienstag bekräftigt, dass sie gegen ein Referendum bereits im Juni sei. Sie hat eine Initiative ins Leben gerufen, der sich Abgeordnete mehrerer Parteien angeschlossen haben. Im Mai stehen Regionalwahlen in Schottland, Nordirland und Wales sowie Teilen Englands an, zudem wird in London ein Bürgermeister gewählt. Es sei respektlos diesen Abstimmungen gegenüber, wenn sie von Pro- und Anti-EU-Kampagnen überschattet würden, meinen die Schotten.

© SZ vom 03.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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