Großbritannien:"Loch in der Mitte"

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Freut sich über 20 000 neue Parteimitglieder: Nick Clegg. (Foto: Jason Alden/Bloomberg)

Labour rückt nach links, die Tories nach rechts - die zuletzt bei den Wahlen abgestürzten britischen Liberaldemokraten sehen in der Lücke ihre neue Chance.

Von Christian Zaschke, London

Es scheint, als hätten Nick Clegg die Monate ohne politisches Amt gutgetan. Bei seinem ersten großen Auftritt seit der verheerenden Wahlniederlage der britischen Liberaldemokraten zeigte sich der vormalige Parteichef am Montag kämpferisch, präzise und bisweilen gar heiter. Er sprach auf dem Parteitag in Bournemouth, wo sich die Libdems noch bis Mittwoch darüber klar werden wollen, welche Rolle sie künftig in der britischen Politik spielen könnten. Bei der Parlamentswahl im Mai hatten sie 49 ihrer 57 Sitze verloren. Damit sind sie vom Juniorpartner in der Regierungskoalition zu einer Partei nahe der Bedeutungslosigkeit geworden.

Allerdings sind den Libdems seit Mai auch 20 000 Menschen beigetreten, und in Bournemouth ist von Niedergeschlagenheit nicht viel zu spüren. Seit die Labour-Partei unter dem neuen Vorsitzenden Jeremy Corbyn nach links gerückt ist und die Tories nun ohne moderaten Koalitionspartner eine deutlich konservativere Politik verfolgen, sehen die Libdems wieder Raum für sich. Clegg sagte: "Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich ausgerechnet nach unserer schlimmsten Wahlniederlage ein riesiges Loch in der politischen Mitte aufgetan hat, das mit liberalen Ideen gefüllt werden muss."

Seit jeher sind die Libdems die EU-freundlichste der größeren britischen Parteien, weshalb Clegg Teile seiner Rede dazu nutzte, vor den Folgen eines Austritts aus der EU zu warnen. Die Konservativen haben angekündigt, dass es bis spätestens Ende 2017 eine Volksabstimmung über die Mitgliedschaft in der EU geben werde. Abgesehen davon, dass man sich isoliere, sagte Clegg, könne ein Austritt auch innenpolitisch dramatische Folgen haben.

Was er meint: Die Mehrheit der Schotten ist laut Umfragen für den Verbleib in der EU. Wenn das Land als Teil des Vereinigten Königreichs gegen seinen Willen aus der EU austreten müsste, wäre die logische Folge eine erneute Abstimmung über die Unabhängigkeit. Im vergangenen Jahr hatten sich 55 Prozent der Wähler in Schottland für den Verbleib im Königreich entschieden. Sollte sich jedoch tatsächlich eine Konstellation ergeben, in der Großbritannien aus der EU austritt, obwohl in Schottland eine Mehrheit dagegen votiert hat, gilt ein Ja zur Unabhängigkeit in einem erneuten Unabhängigkeitsreferendum als wahrscheinlich. Clegg sagte, auf diese Weise werde eine "einst große Nation auseinandergerissen", übrig bliebe "Little England", abgekapselt und ohne jeglichen Einfluss.

Cleggs Nachfolger als Parteichef, Tim Farron, hat am Montag die pro-europäische Kampagne der Libdems offiziell eröffnet. Zugleich appellierte er an die Labour-Partei, in dieser Frage mit einer Stimme zu sprechen. Deren neuer Chef Corbyn hatte zuletzt für Verwirrung gesorgt, weil er sich nicht festlegen wollte, ob er unter allen Umständen für einen Verbleib werben würde. Während die Tories als Hauptproblem der EU sehen, dass es zu viele Regulierungen gebe und möglichst viele davon abschaffen wollen, fürchtet Corbyn, dass zu viele Regulierungen, insbesondere den Arbeitnehmerschutz betreffend, gelockert werden könnten.

In Anbetracht des neuen Kurses von Corbyn hat Libdem-Chef Farron Labour-Wähler dazu aufgerufen, für seine Partei zu stimmen. Er sei auch schon von Labour- Abgeordneten kontaktiert worden, die erwögen, zu den Libdems überzulaufen. Diese Aussage wurde in Labour-Kreisen amüsiert aufgenommen. Der stellvertretende Parteichef Tom Watson sagte: "Das wäre ja so, als würde man die Beatles verlassen, um sich einer Bananarama-Coverband anzuschließen."

© SZ vom 22.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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