Großbritannien:Im Emotions-Gewitter

Der Brexit-Debatte fehlen Vernunft und Sachlichkeit. Was eigentlich britische Tugenden sind, wird von schriller Polemik, Halbwahrheiten und Fensterreden überdröhnt. Diese epochale Entscheidung hätte bessere Voraussetzungen verdient.

Von Christian Zaschke

Seit die regionalen Wahlen in Großbritannien vorüber sind, hat die Diskussion über die EU-Mitgliedschaft richtig Fahrt aufgenommen, und es zeigt sich, dass dem Land in den kommenden sechs Wochen keine sonderlich sachliche Debatte bevorsteht. Beliebtestes Stilmittel ist die grobe Übertreibung. Die Gegner warnen unter anderem vor unkontrollierbarer Masseneinwanderung, die ehrbare Briten um ihre Jobs bringe, während die Befürworter unken, jeder Haushalt verliere bei einem Austritt Tausende Pfund im Jahr. Glaubt man beiden Lagern, steht Großbritannien so oder so vor Chaos und Ruin.

Das ist deshalb etwas überraschend, weil das Verhältnis Großbritanniens zur EU immer von Pragmatismus geprägt war. Die EU wird als Zweckbündnis gesehen, das vor allem den Handel erleichtern soll. Das Interesse an politischer Integration geht gegen null. Deshalb war es Premierminister David Cameron wichtig, dass Großbritannien vom EU-Ziel der "immer engeren Union der Völker" ausgenommen wird.

Zu erwarten wäre eine nüchterne Abwägung gewesen, und schließlich eine ebenso nüchterne Entscheidung. Da die EU-Gegner jedoch ahnen, dass am Ende eines solchen Wägens die Erkenntnis stehen könnte, dass es in vielerlei Hinsicht in Großbritanniens ureigenem Interesse ist, Teil des Verbunds zu bleiben, haben sie die Debatte emotionalisiert. Vor allen Dingen haben sie es geschafft, dass die Befürworter nun glauben, Emotion mit Emotionen beantworten zu müssen.

Cameron behauptete zu Wochenbeginn geradezu feierlich, ein Austritt führe zu militärischer Instabilität. Die EU hat sicherlich zur Stabilität auf dem Kontinent beigetragen, das wurde auch mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Union im Jahr 2012 gewürdigt. Dennoch ist Camerons aufgeladene Äußerung zumindest teilweise irreführend, weil Großbritannien ja nicht aus der Nato austräte, die in erster Linie für die europäische Friedenssicherung zuständig ist. Sein Gegenspieler Boris Johnson machte sich daraufhin über Cameron lustig, indem er sagte, bei einem britischen Austritt würden vermutlich rasch deutsche Panzer über die französische Grenze rollen. Das war auch nicht zielführend, und, ungewöhnlich für Johnson, nicht einmal besonders witzig.

Überhaupt die Deutschen. Der ehemalige Arbeitsminister Ian Duncan Smith erzählte dem Boulevardblatt The Sun, dass Angela Merkel eine wichtige Rolle bei der Neuverhandlung des britischen Verhältnisses zur EU spielte. Sie habe kontrollierend mit im Raum gesessen, selbst wenn sie nicht anwesend war. Es ist keine Neuigkeit, dass Briten und Deutsche bei den Verhandlungen eng zusammengearbeitet haben, doch war die Äußerung für die Sun Grund genug, Cameron als Merkels Marionette auf der Titelseite abzubilden. Auf diesem Niveau läuft die Debatte.

Das ist ein wenig beunruhigend, weil die Entscheidung epochal ist. Sie sollte auf der Basis einer rationalen Abwägung getroffen werden. Doch beide Lager stehen sich in einer Unversöhnlichkeit gegenüber, die für Fakten kaum Raum lässt. Im Vergleich zur Schärfe der Debatte über die EU-Mitgliedschaft mutet die Diskussion über die Unabhängigkeit Schottlands, die vor eineinhalb Jahren mit enormer Energie geführt wurde, geradezu friedlich an.

Es ist nicht zu erwarten, dass die Diskussionen sachlicher werden, wenn das Referendum näher rückt, im Gegenteil. Das wiederum bedeutet, dass die wohl wichtigste politische Debatte seit Jahrzehnten von beiden Seiten in erster Linie mit Fensterreden, Halbwahrheiten und unbewiesenen Behauptungen geführt wird. Zu hoffen wäre, dass die pragmatischen Briten am 23. Juni dennoch in der ihnen eigenen Nüchternheit über ihre Zukunft und die des Kontinents entscheiden.

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